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hohlwangige Gesichter am Rand des Wegs. Nichts ließ erkennen, ob diese Leute nur rasteten oder vielmehr am Straßenrand auf ihr Ende warteten.

Als der dicke Graf Karl von Doder darauf ansprach, wollte der nur von dem Buch sprechen, das er in der Klosterbibliothek studiert hatte, Ars magna lucis et umbrae, ganz schwindlig werde einem, man blicke gleichsam in einen Abgrund der Gelehrsamkeit; und nein, er habe auch keine Ahnung, wo die jüngeren Menschen seien, aber wenn er eine Vermutung wagen dürfe, dann seien längst alle, die noch hätten rennen können, fortgerannt. In jenem Buch aber sei ständig von Linsen die Rede und davon, wie man die Dinge vergrößern könne, und dann gehe es um Engel, ihre Form, ihre Farbe, und um Musik und die Sphärenharmonien, und um Ägypten gehe es auch, es sei bei Gott ein sehr eigentümliches Werk.

Diesen Satz verwendete der dicke Graf wortwörtlich in seinem Bericht. Aber weil sich ihm die Dinge verwirrten, behauptete er dort, dass er selbst es gewesen sei, der die Ars magna gelesen habe, und zwar auf ihrer Reise. Er beschrieb, wie er das Werk in der Satteltasche mit sich getragen habe, was allerdings, wie die Fußnotenschreiber später mit spöttischer Sachlichkeit anmerkten, klar verriet, dass er dieses riesenhafte Buch nie in Händen gehalten hatte. Der dicke Graf aber beschrieb arglos, wie er an wechselnden Abenden vor notdürftigen Lagerfeuern Kirchers denkwürdige Beschreibungen von Licht, Linsen und Engeln studiert habe, wobei ihm die subtilen Überlegungen des großen Gelehrten als

der eigenartigste Kontrast zu ihrem Vorrücken in das immer stärker verwüstete Land erschienen sei.

Bei Altheim wurde der Wind so scharf, dass sie die gefütterten Mäntel anziehen und die Kapuzen tief in die Stirnen ziehen mussten. Bei Ranshofen klarte das Wetter noch einmal auf. In einem leer stehenden Bauernhaus sahen sie der Sonne beim Untergehen zu. Keine Menschen weit und breit, nur eine Gans, die wohl irgendwem davongelaufen war, stand zerrupft neben einem Brunnen.

Der dicke Graf streckte sich und gähnte. Das Land war hügelig, aber es war kein Baum mehr zu sehen, alles war abgeholzt. Man hörte ein fernes Grollen.

«Oje», sagte der dicke Graf, «auch das noch, ein Gewitter.»

Die Dragoner lachten.

Der dicke Graf begriff. Er habe das schon erkannt, sagte er verlegen, wodurch es natürlich erst richtig peinlich wurde. Er habe nur einen Scherz gemacht.

Die Gans betrachtete sie aus verständnislosen Gänseaugen. Sie öffnete und schloss den Schnabel. Der Dragoner Franz Kärrnbauer legte mit dem Karabiner an und schoss. Und obgleich der dicke Graf bald darauf noch viel mitansehen würde, sollte er sein Lebtag nicht vergessen, welch ein Schrecken ihn bis ins Innerste durchfuhr, als der Kopf des Vogels platzte. Etwas daran war fast unbegreiflich - wie schnell das ging, wie sich von einem Moment zum nächsten ein fester kleiner Kopf in ein Aufspritzen und in nichts verwandelte und wie das Tier noch ein paar Watschelschritte machte und dann zu einem weißen Gebilde zusammensank, in einer wachsenden Pfütze Blut. Während er sich die Augen rieb und versuchte, ruhig zu atmen, um nicht ohnmächtig zu werden, beschloss er, dass er es unbedingt vergessen musste. Aber natürlich vergaß er nicht, und als er sich ein halbes Jahrhundert später bei der Abfassung seines Lebensberichtes an diese Reise erinnerte, war es das Bild des zerplatzenden Gänsekopfs, das an Deutlichkeit alles andere überstrahlte. In einem ganz und gar ehrlichen Buch hätte er davon erzählen müssen, aber er brachte es nicht über sich und nahm es mit ins Grab, und keiner erfuhr, mit welch unaussprechlichem Ekel er mitangesehen hatte, wie die Dragoner den Vogel fürs Abendessen zugerichtet hatten: Fröhlich schabten sie Federn ab, schnitten und rissen, nahmen den Körper aus und brieten das Fleisch über dem Feuer.

In dieser Nacht schlief der dicke Graf schlecht. Der Wind heulte durch die Fensterhöhlen. Er schlotterte vor Kälte, der Dragoner Kärrnbauer schnarchte laut. Ein anderer Dragoner namens Stefan Purner, oder vielleicht war es auch Konrad Purner - die beiden waren Brüder, und der dicke Graf verwechselte sie so häufig, dass sie ihm später im Buch zu einer einzigen Gestalt zusammenflossen -, gab ihm einen Stoß, aber er schnarchte nur noch lauter.

Am Morgen ritten sie weiter. Das Dorf Markl war völlig zerstört: durchlöcherte Mauern, geborstene Balken, Schutt und Steine auf dem Weg, neben dem verdreckten Brunnen ein paar alte Leute, die um Essen bettelten. Der Feind sei hier gewesen

und habe alles genommen, und das Wenige, das man habe verstecken können, habe danach der Freund genommen, die Soldaten des Kurfürsten nämlich, und kaum seien die abgezogen, sei das, was man vor ihnen noch habe verbergen können, wiederum von den Feinden genommen worden.

«Welchen Feinden denn?», fragte der dicke Graf besorgt. «Schweden oder Franzosen?»

Das sei ihnen gleich, sagten sie. Sie hätten solchen Hunger.

Der dicke Graf zögerte einen Moment, dann gab er den Befehl zum Weiterreiten.

Ihnen nichts dazulassen sei schon richtig gewesen, sagte Karl von Doder. Man habe nicht genug Proviant und müsse einen Auftrag von höchster Stelle ausführen, man könne nun mal nicht jedermann helfen, das vermöge nur Gott, der sich dieser Christenmenschen bestimmt in seiner unendlichen Barmherzigkeit annehmen werde.

Alle Felder lagen brach, einige waren aschgrau, von großen Feuern. Die Hügel duckten sich unter einem bleischweren Himmel. In der Ferne standen Rauchsäulen vor dem Horizont.

Am besten, sagte Karl von Doder, ziehe man an Altötting, Polling und Tüssling südlich vorbei, fernab der Landstraße, im freien Feld. Wer jetzt noch nicht aus den Dörfern geflohen sei, sei bewaffnet und misstrauisch. Eine Gruppe von Reitern, die auf ein Dorf zuhalte, könne ohne weiteres aus der Deckung beschossen werden.

«Ja, gut», sagte der dicke Graf, der nicht begriff, wieso ein Reichshofratssecretarius plötzlich derart genaue Vorstellungen

davon hatte, wie man sich im Kriegsgebiet verhalten musste. «Einverstanden!»

«Wenn wir Glück haben und keinen Soldaten begegnen», sagte Karl von Doder, «dann schaffen wir es in zwei Tagen bis nach Andechs.»

Der dicke Graf nickte und versuchte, sich vorzustellen, dass jemand ernstlich auf ihn schießen könnte, gezielt über Kimme und Korn. Auf ihn, Martin von Wolkenstein, der noch keinem Übles getan hatte, mit einer echten Kugel aus Stahl. Er sah an sich herab. Sein Rücken tat weh, sein Gesäß war wund von den Tagen im Sattel. Er strich über seinen Bauch und stellte sich eine Kugel vor, er dachte an den geplatzten Gänsekopf, und er dachte auch an den Metallzauber, über den Athanasius Kircher in seinem Buch über die Magneten geschrieben hatte: Wen man einen Magnetstein von ausreichender Stärke in seiner Tasche trage, so könne der die Kugeln ablenken und einen Mann unverwundbar machen. Das hatte der legendäre Gelehrte selbst ausprobiert. Leider waren derart starke Magneten sehr selten und teuer.

Als er ein halbes Jahrhundert später ihre Reise zu rekonstruieren versuchte, kam ihm seines Alters wegen der Zeitlauf durcheinander. Um seine Unsicherheit zu kaschieren, findet sich an dieser Stelle des Lebensberichts eine blumige Abschweifung, siebzehneinhalb Seiten lang, über die Kameradschaft der Männer, die einer Gefahr entgegengehen im Wissen, dass ebendiese Gefahr sie entweder töten oder fürs Leben in Freundschaft verbinden wird. Die Passage wurde

berühmt, unerachtet des Umstands, dass sie erlogen war, denn in Wahrheit war keiner der Männer sein Freund geworden. Die eine oder andere Unterhaltung mit dem Reichshofratssecretarius stand ihm beim Schreiben noch in Bruchstücken im Gedächtnis, aber was die Dragoner anging, so erinnerte er sich kaum an ihre Namen und schon gar nicht an ihre Gesichter. Nur dass einer von ihnen einen breitkrempigen Hut aufgehabt hatte mit einem grauroten Federbusch, das wusste er noch. Vor allem sah er lehmige Feldwege vor sich und spürte, als wäre es gestern gewesen, das Klopfen des Regens auf seiner Kapuze. Sein Mantel war schwer von Wasser gewesen. Damals hatte er begriffen, dass nichts je so nass war, dass es nicht noch nässer werden konnte.