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Vor einiger Zeit waren hier Wälder gewesen. Aber als er beim Reiten, mit schmerzendem Rücken und wundem Gesäß, darüber nachdachte, bemerkte er, dass dieses Wissen ihm nichts bedeutete. Der Krieg kam ihm nicht wie etwas von Menschen Gemachtes vor, sondern wie Wind und Regen, wie das Meer, wie die hohen Klippen von Sizilien, die er als Kind gesehen hatte. Dieser Krieg war älter als er. Er war manchmal gewachsen und manchmal geschrumpft, er war hierhin und dorthin gekrochen, hatte den Norden verwüstet, sich nach Westen gewendet, hatte einen Arm nach Osten und einen in den Süden ausgestreckt, dann sein volles Gewicht in den Süden gewälzt, nur um sich sodann wieder für eine Weile im Norden niederzulassen. Natürlich kannte der dicke Graf Menschen, die sich noch an die Zeit davor erinnerten, allen voran seinen

Vater, der im Tiroler Familienlandsitz Rodenegg hustend und gut gelaunt den Tod erwartete, wie ihn der dicke Graf selbst fast sechzig Jahre später hustend und schreibend erwarten sollte, am selben Ort und an demselben steinernen Tisch. Sein Vater hatte einmal mit Albrecht von Wallenstein gesprochen; der große und dunkle Mann hatte sich über das feuchte Wetter in Wien beklagt, sein Vater hatte geantwortet, dass man sich daran gewöhne, worauf Wallenstein erwidert hatte, er wolle und werde sich nicht an solches Dreckswetter gewöhnen, worauf sein Vater mit einer besonders geistreichen Bemerkung hatte parieren wollen, aber Wallenstein hatte sich schon brüsk abgewendet. Kaum ein Monat verging, in dem sein Vater nicht einen Anlass fand, davon zu sprechen, ebenso wie er nie zu erwähnen vergaß, dass er einige Jahre zuvor auch dem unglücklichen Kurfürsten Friedrich begegnet war, der kurz danach die böhmische Krone angenommen und den großen Krieg vom Zaun gebrochen hatte, nur um nach einem einzigen Winter schimpflich verjagt zu werden und schließlich irgendwo am Wegrand zu verrecken, nicht einmal ein Grab hatte er.

In dieser Nacht fanden sie keinen Unterstand. Sie rollten sich auf einem kahlen Feld zusammen und hüllten sich in ihre nassen Mäntel. Der Regen war zu stark, um Feuer zu machen. Nie hatte der dicke Graf sich so elend gefühlt. Der nasse Mantel, der immer nässer wurde, der inzwischen schon unbeschreiblich vollgesogene Mantel und der weiche Lehm, in dem sein Körper allmählich tiefer sank - konnte der Morast einen Menschen einfach schlucken? Er versuchte, sich

aufzusetzen, aber es gelang ihm nicht, der Lehm schien ihn festzuhalten.

Irgendwann hörte der Regen auf. Franz Kärrnbauer schichtete hustend ein paar Zweige und schlug die Feuersteine gegeneinander, wieder und wieder, bis endlich Funken flogen, und dann fuhrwerkte er noch eine halbe Ewigkeit und blies auf das Holz und murmelte Zauberformeln, bis kleine Flammen in die Dunkelheit zuckten. Zitternd hielten sie die Hände in die Wärme.

Die Pferde scheuten und wieherten. Einer der Dragoner stand auf, der dicke Graf konnte nicht erkennen, welcher, aber dass er den Karabiner im Anschlag hielt, sah er. Das Feuer ließ ihre Schatten tanzen.

«Wölfe», flüsterte Karl von Doder.

Sie starrten in die Nacht. Mit einem Mal erfüllte den dicken Grafen das Gefühl, dass dies alles ein Traum sein musste, mit solcher Stärke, dass es ihm in der Erinnerung scheinen sollte, als wäre es auch einer gewesen und als wäre er gleich darauf aufgewacht, am hellen Morgen, trocken und ausgeschlafen. Es konnte sich so nicht abgespielt haben, aber statt sich mit dem Erinnern abzumühen, schob er zwölf Seiten kunstvoll verschachtelter Sätze über seine Mutter ein. Das meiste war reine Erfindung, denn er verschmolz seine ferne und kaltherzige Mutter mit der Figur seiner Lieblingsgouvernante, die sanfter zu ihm gewesen war als irgendein anderer Mensch, außer vielleicht die schmale und schöne Dirne Aglaia. Als sein Bericht nach dieser langen und erlogenen Erinnerung zur

Reise zurückfand, waren sie bereits an Haar und Baierbronn vorbei, und hinter ihm führten die Dragoner ein Gespräch über Zauberformeln, die einen vor irrenden Kugeln schützten.

«Gegen eine gut gezielte kannst nichts machen», sagte Franz Kärrnbauer.

«Außer man hat einen wirklich starken Spruch», sagte Konrad Purner. «Einen von den ganz geheimen. Die können sogar was gegen Kanonenkugeln ausrichten, ich hab das selbst gesehen, bei Augsburg. Einer neben mir hat so einen verwendet, ich dachte, der ist tot, aber dann ist er wieder aufgestanden, als wäre nichts geschehen. Den Spruch habe ich nicht richtig gehört, es ist ein Jammer.»

«Ja, mit so einem Spruch geht es schon», sagte Franz Kärrnbauer. «Einem wirklich teuren. Aber die einfachen Sprüche, die man auf dem Markt kauft, die können nichts.»

«Ich hab einen gekannt», sagte Stefan Purner, «der hat für die Schweden gekämpft, und er hat ein Amulett gehabt, mit dem hat er erst Magdeburg überlebt, dann Lützen. Dann hat er sich totgetrunken.»

«Aber das Amulett», fragte Franz Kärrnbauer. «Wer hat das gekriegt, wo ist es?»

«Ja, wenn man's wüsste.» Stefan Purner seufzte. «Wenn man das hätte. Dann wäre alles anders.»

«Ja», sagte Franz Kärrnbauer andächtig. «Wenn man das hätte!»

Bei Haar fanden sie den ersten Toten. Er musste schon eine Weile da gelegen haben, denn seine Kleider waren mit einer

Erdschicht überzogen, und seine Haare schienen verflochten mit den Grashalmen. Er lag mit dem Gesicht zum Boden, die Beine gespreizt, mit nackten Füßen.

«Das ist normal», sagte Konrad Purner, «niemand lässt einer Leiche die Stiefel. Wenn man Pech hat, wird man allein wegen seiner Schuhe umgebracht.»

Der Wind trug kleine, kalte Regentropfen mit sich. Um sie herum waren Baumstümpfe, Hunderte davon, hier war ein ganzer Wald abgeholzt worden. Sie kamen durch ein bis auf die Grundmauern niedergebranntes Dorf, und da sahen sie einen Leichenhaufen. Der dicke Graf wandte den Blick ab und sah dann doch hin. Er sah geschwärzte Gesichter, einen Rumpf mit nur einem Arm, eine zur Klaue gekrampfte Hand, zwei leere Augenhöhlen über einem offenen Mund und dort etwas, das wie ein Sack aussah, aber der Überrest eines Leibes war. Ein beißender Geruch hing in der Luft.

Am späten Nachmittag kamen sie zu einem Dorf, in dem noch Menschen waren. Ja, der Ulenspiegel sei im Kloster, sagte eine alte Frau, der lebe noch. Und als ihnen kurz vor Sonnenuntergang ein verwildert aussehender Mann und ein kleiner Junge begegneten, die gemeinsam einen Karren zogen, bekamen sie die gleiche Auskunft. Der sei im Kloster, sagte der Mann und stierte am Pferd des dicken Grafen empor. Immer nach Westen, am See vorbei, dann könnten sie es nicht verfehlen. Ob die Herren Essen hätten für ihn und seinen Sohn?

Der dicke Graf griff in die Satteltasche und gab ihm eine

Wurst. Es war seine letzte, und er wusste, dass es ein Fehler war, aber er konnte nicht anders, das Kind tat ihm so leid. Benommen fragte er, warum sie den Wagen zögen.

«Er ist alles, was wir haben.»

«Aber er ist leer», sagte der dicke Graf.

«Aber er ist alles, was wir haben.»

Wieder schliefen sie im freien Feld, zur Sicherheit zündeten sie kein Feuer an. Der dicke Graf fror, aber wenigstens regnete es nicht, und der Boden war fest. Kurz nach Mitternacht hörten sie in der Nähe zwei Schüsse. Sie lauschten. Im ersten Morgenlicht schwor Karl von Doder, er habe einen Wolf gesehen, der sie aus nicht zu großer Entfernung beobachtet habe. Hastig saßen sie auf und ritten weiter.

Sie begegneten einer Frau. Es war nicht zu erkennen, ob sie alt war oder ob ihr das Leben nur übel mitgespielt hatte, so zerfurcht war ihr Gesicht, so gebeugt ging sie. Ja, im Kloster, dort sei er noch. Kaum sprach sie von dem berühmten Spaßmacher, musste sie lächeln. Und so war es immer, schrieb der dicke Graf fünfzig Jahre später, alle schienen Bescheid zu wissen; jeder, dem wir seinen Namen nannten, wies Richtung und Weg, im verödeten Land hatte die Kunde, wo er sich aufhielt, Eingang in jede verbliebene Seele gefunden.