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Gegen Mittag kamen ihnen Soldaten entgegen. Zuerst eine Gruppe Pikeniere: verwilderte Menschen mit struppigen Bärten. Einige hatten offene Wunden, andere schleppten Säcke voll Beute. Ein Geruch von Schweiß, Krankheit und Blut hing über ihnen, und sie blickten aus kleinen, feindseligen Augen.

Ihnen folgten Planwagen, auf denen ihre Frauen und Kinder hockten. Ein paar der Frauen hielten Säuglinge fest. Wir sahen nur die Verheerung der Leiber, schrieb der dicke Graf später, aber ob Freund oder Feind, war nicht zu erkennen, denn sie trugen keine Feldzeichen.

Nach den Pikenieren kam ein gutes Dutzend Reiter.

«Meinen Dienst», sagte einer, der offenbar ihr Anführer war, «wohin des Wegs?»

«Zum Kloster», sagte der dicke Graf.

«Dort kommen wir gerade her. Gibt dort nichts zu essen.»

«Wir suchen nicht nach Essen, wir suchen nach Tyll Ulenspiegel.»

«Ja, der ist dort. Wir haben ihn gesehen, aber wir haben das Weite suchen müssen, als die Kaiserlichen gekommen sind.»

Der dicke Graf wurde bleich.

«Keine Angst, ich tu euch nichts. Ich bin der Hans Kloppmess aus Hamburg. Ich war auch mal kaiserlich. Und vielleicht werde ich es wieder, wer weiß? Ein Söldner hat einen Beruf, nicht anders als ein Tischler und Bäcker. Die Armee ist meine Innung, dort im Wagen hab ich Frau und Kinder, die muss ich ernähren. Im Augenblick zahlen die Franzosen nichts, aber wenn sie doch zahlen, dann wird es mehr sein, als man beim Kaiser kriegt. In Westfalen verhandeln die großen Herren über den Frieden. Wenn der Krieg aufhört, bekommen alle den ausstehenden Sold, drauf kann man sich verlassen, denn ohne den Sold würden wir uns weigern, nach Hause zu gehen, davor haben die Herren Angst. Schöne Pferde habt ihr!»

«Danke», sagte der dicke Graf.

«Könnt ich gut brauchen», sagte Hans Kloppmess.

Besorgt drehte sich der dicke Graf nach seinen Dragonern um.

«Wo kommt ihr her?», fragte Hans Kloppmess.

«Wien», sagte der dicke Graf mit belegter Stimme.

«Ich war einmal fast in Wien», sagte der Reiter neben Hans Kloppmess.

«Was, wirklich?», fragte Hans Kloppmess. «Du in Wien?»

«Nur fast. Bin nicht hingekommen.»

«Was ist passiert?»

«Passiert ist nichts, ich bin nicht nach Wien gekommen.»

«Haltet euch von Starnberg fern», sagte Hans Kloppmess. «Am besten wandert ihr südlich an Gauting vorbei, dann Richtung Herrsching, dann von dort zum Kloster, der Weg ist noch für Wanderer frei. Aber beeilt euch, Turenne und Wrangel sind schon über die Donau. Bald geht es heiß her.»

«Wir sind keine Wanderer», sagte Karl von Doder.

«Wartet's ab.»

Kein Kommando war nötig, keine Absprache. Alle gaben sie den Pferden die Sporen. Der dicke Graf beugte sich über den Hals des Tieres und hielt sich fest, halb an den Zügeln und halb an der Mähne. Er sah die Erde unter den Hufen spritzen, er hörte Rufe hinter sich, er hörte den Knall eines Schusses, er widerstand der Versuchung, sich umzusehen.

Sie ritten und ritten, und sie ritten und ritten immer noch, sein Rücken schmerzte unerträglich, er hatte keine Kraft mehr

in den Beinen, und er wagte nicht, den Kopf zu drehen. Neben ihm ritt Franz Kärrnbauer, vor ihm ritten Konrad Purner und Karl von Doder, Stefan Purner ritt hinter ihm.

Endlich hielten sie an. Die Pferde dampften vor Schweiß. Dem dicken Grafen war schwarz vor Augen, er rutschte aus dem Sattel, Franz Kärrnbauer stützte ihn und half ihm beim Absteigen. Die Soldaten waren ihnen nicht gefolgt. Es hatte zu schneien begonnen. Weißgraue Flocken trieben in der Luft. Als er eine davon auf den Finger nahm, erkannte er, dass es Asche war.

Karl von Doder tätschelte den Hals seines Pferdes. «Südlich vorbei an Gauting, hat er gesagt, dann Richtung Herrsching. Die Pferde haben Durst, sie brauchen Wasser.»

Sie stiegen wieder auf. Stumm ritten sie durch die fallende Asche. Sie begegneten keinem Menschen mehr, und am späten Nachmittag sahen sie über sich den Turm des Klosters.

Hier macht Martin von Wolkensteins Lebensbericht einen Sprung: Kein Wort verliert er über den steilen Anstieg hinter Herrsching, der den Pferden nicht leichtgefallen sein kann, auch gibt es nichts über die halbzerstörten Klostergebäude und keine Schilderung der Mönche. Natürlich lag das an seinem Gedächtnis, noch mehr aber lag es wohl daran, dass ihn beim Schreiben nervöse Ungeduld befiel. Und so finden die Leser ihn schon zwei konfuse Zeilen später dem Abt gegenüber, in den frühen Morgenstunden des nächsten Tages.

Sie saßen auf zwei Hockern in einem leeren Saal. Die Möbel waren gestohlen, zerstört oder verheizt worden. Auch

Wandteppiche habe es gegeben, sagte der Abt, silberne Kerzenhalter und ein großes Kreuz aus Gold über dem Türbogen dort. Nun kam das Licht von einem einzigen Kienspan. Pater Friesenegger erzählte sachlich und knapp, dennoch fielen dem dicken Grafen einige Male die Augen zu. Immer wieder schreckte er auf, nur um festzustellen, dass der hagere Mann unterdessen weitergesprochen hatte. Der dicke Graf hätte sich gerne ausgeruht, aber der Abt wollte von den letzten Jahren erzählen, er wollte, dass der Bote des Kaisers genau wusste, was das Kloster mitgemacht hatte. Als der dicke Graf, dem mittlerweile ständig Dinge, Leute und Jahre durcheinandergerieten, in den Tagen Leopolds I. seinen Lebensbericht schrieb, sollte er sich neidvoll an Pater Frieseneggers fehlerloses Gedächtnis erinnern.

Die schweren Jahre hätten dem Geist des Abtes nichts anhaben können, schrieb er. Seine Augen seien scharf und aufmerksam gewesen, seine Worte gut gewählt, die Sätze lang und wohlgebildet, doch Wahrhaftigkeit sei nicht alles: Die Unmenge von Ereignissen hätte sich ihm nicht zu Geschichten geformt, und so sei es schwierig gewesen, ihm zu folgen. Immer wieder waren in den Jahren Soldaten ins Kloster eingefallen: Die kaiserlichen Truppen hatten genommen, was sie brauchten, dann waren die protestantischen Truppen gekommen und hatten genommen, was sie brauchten. Dann hatten die Protestanten sich zurückgezogen, und die Kaiserlichen waren wiedergekommen und hatten genommen, was sie brauchten: Tiere und Holz und Stiefel. Dann waren die

Kaiserlichen abgezogen, aber sie hatten eine Schutzgarde dagelassen, und dann waren marodierende Soldaten gekommen, die zu keiner Armee gehörten, und die Schutzgarde hatte sie vertrieben, oder sie hatten die Schutzgarde vertrieben, entweder das eine oder das andere oder vielleicht auch das eine zuerst und das andere später, der dicke Graf war sich nicht sicher, und es war ja auch egal, denn die Schutzgarde war wieder abgezogen, und entweder die Kaiserlichen oder die Schweden waren gekommen, um zu nehmen, was sie brauchten: Tiere und Holz und Kleider und vor allem natürlich Stiefel, wenn es denn noch Stiefel gegeben hätte, auch das Holz war schon dahin. Im nächsten Winter hatten die Bauern der umliegenden Dörfer sich ins Kloster geflüchtet, in allen Sälen hatten Menschen gelegen, in allen Kammern, in jedem kleinsten Korridor. Der Hunger, die verunreinigten Brunnen, die Kälte, die Wölfe!

«Wölfe?»

In die Häuser seien sie eingedrungen, erzählte der Abt, zunächst nur nachts, aber bald auch tagsüber. Die Menschen seien in die Wälder geflohen und hätten dort die kleinen Tiere erlegt und gegessen und dann die Bäume abgeholzt, um nicht zu erfrieren - dadurch hätten die Wölfe vor Hunger alle Furcht und Scheu verloren. Wie lebendig gewordene Albträume seien sie über die Dörfer gekommen, wie Schreckgestalten aus alten Märchen. Mit hungrigen Augen seien sie in Stuben und Ställen erschienen, ohne die geringste Angst vor Messern oder Mistgabeln. In den schlimmsten Wintertagen hätten sie sogar

den Weg ins Kloster gefunden, eines der Tiere habe eine Frau mit einem Säugling angefallen und ihr das Kind aus der Hand gerissen.