Nein, genau das war nun wieder nicht passiert, nur von der Angst um die kleinen Kinder hatte der Abt gesprochen. Aber aus irgendeinem Grund hatte die Vorstellung, ein Säugling könnte vor den Augen der Mutter von einem Wolf verzehrt worden sein, den dicken Grafen, der zu diesem Zeitpunkt schon fünf Enkel und drei Urenkel hatte, so sehr in Bann geschlagen, dass er meinte, der Abt habe ihm wohl auch dies erzählt, weshalb er unter eloquenten Entschuldigungen dafür, dass er dem Leser das Folgende nicht zu ersparen das Recht habe, eine zutiefst grausame Beschreibung von Schmerzensschreien, Entsetzen, Wolfsknurren, scharfen Zähnen und Blut einfügte.
Und so, sagte der Abt mit seiner ruhigen Stimme, sei es weiter- und weitergegangen, Tag um Tag, Jahr um Jahr. So viel Hunger. So viel Krankheit. Der Wechsel der Armeen und Marodeure. Das Land habe sich entvölkert. Die Wälder seien verschwunden, die Dörfer abgebrannt, die Menschen geflohen, weiß Gott, wohin. Im letzten Jahr hätten sich selbst die Wölfe davongemacht. Er beugte sich vor, legte dem dicken Grafen eine Hand auf die Schulter und fragte, ob er sich das auch alles merken könne.
«Alles», sagte der dicke Graf.
Es sei wichtig, dass der Hof davon erfahre, sagte der Abt. Der bayerische Kurfürst als Oberbefehlshaber der Kaiserlichen interessiere sich in seiner Weisheit nur fürs große Bild, nicht
für die Einzelheiten. Oft habe man ihn um Hilfe angerufen, aber die Wahrheit sei, dass seine Truppen schlimmer gewütet hätten als die Schweden. Nur wenn man sich daran erinnere, habe all das Leiden einen Sinn gehabt.
Der dicke Graf nickte.
Der Abt sah ihm aufmerksam ins Gesicht.
Haltung, sagte er, als hätte er die Gedanken seines Gegenübers gelesen. Zucht und inneres Wollen. Das Wohl des Klosters ruhe auf seinen Schultern, das Überleben der Mitbrüder.
Er bekreuzigte sich, der dicke Graf tat es ihm nach.
Das hier helfe sehr. Der Abt griff in den Aufschlag seiner Kutte, und mit einem Entsetzen, wie er es nur aus Fieberphantasien kannte, sah der dicke Graf ein Jutegeflecht, darin Dornen aus Metall sowie Glasscherben mit eingetrocknetem Blut.
Man gewöhne sich daran, sagte der Abt. Die ersten Jahre seien die schlimmsten gewesen, da habe er das Büßerhemd manchmal ausgezogen und den eiternden Oberkörper mit Wasser gekühlt. Aber dann habe er sich seiner Schwäche geschämt, und Gott habe ihm Mal für Mal die Kraft geschenkt, es wieder anzuziehen. Es habe Augenblicke gegeben, da der Schmerz so wild geworden sei, so teufelsgewaltig spitz und flammend, dass er gemeint habe, er verliere den Verstand. Aber das Beten habe geholfen. Gewohnheit habe geholfen. Und seine Haut sei dicker geworden. Ab dem vierten Jahr habe sich der ständige Schmerz in einen Freund verwandelt.
In diesem Moment, so schrieb der dicke Graf später, musste ihn der Schlaf übermannt haben, denn als er gähnte und sich die Augen rieb und einige Momente brauchte, um sich zu erinnern, wo er war, saß ihm ein anderer gegenüber.
Es war ein dürrer Mann mit hohlen Wangen und einer Narbe, die vom Haaransatz bis hinunter zur Nasenwurzel lief. Er trug eine Kutte, und doch ließ sich deutlich erkennen - auch wenn man nicht hätte sagen können, woran -, dass er kein Mönch war. Noch nie hatte der dicke Graf solche Augen gesehen. Als er es später beschrieb, wusste er nicht mehr recht, ob dieses Gespräch wirklich so stattgefunden hatte, wie er es über die Jahre hinweg Freunden, Bekannten und Fremden berichtet hatte. Aber er entschied sich, bei der Version zu bleiben, die nun schon zu viele Leute gehört hatten, als dass er davon noch hätte abgehen können.
«Da bist du endlich», habe der Mann gesagt. «Ich hab lang gewartet.»
«Bist du Tyll Ulenspiegel?»
«Einer von uns ist es. Bist hier, mich zu holen?»
«Im Auftrag des Kaisers.»
«Welcher Kaiser? Gibt viele.»
«Nein, gibt es nicht! Worüber lachst du?»
«Ich lach nicht über den Kaiser, ich lach über dich. Wieso bist du so fett? Es gibt doch nichts zu fressen, wie machst du das?»
«Halt deinen Mund», sagte der dicke Graf und wurde sofort wütend darüber, dass ihm nichts Geistreicheres eingefallen war. Und obwohl er sein Lebtag über eine bessere Antwort nachdachte und auch eine ganze Reihe davon fand, wich er in keinem Bericht von diesem blamablen Satz ab. Denn gerade er schien die Wahrheit seiner Erinnerung zu besiegeln. Würde man etwas erfinden, das einen so schlecht dastehen ließ?
«Schlägst du mich sonst? Aber das tust du nicht. Du bist weich. Sanft und weich und lieb. Das hier ist nichts für dich.»
«Krieg ist nichts für mich?»
«Nein, ist nichts für dich.»
«Aber für dich schon?»
«Ja, für mich schon.»
«Kommst du freiwillig mit, oder müssen wir dich zwingen?»
«Natürlich komm ich. Hier gibt es nichts mehr zu essen, hier fällt alles auseinander, der Abt macht's auch nicht mehr lang, drum habe ich nach dir geschickt.»
«Du hast nicht nach mir geschickt.»
«Ich hab nach dir geschickt, du fetter Knödel.»
«Seine Majestät hat gehört -»
«Na, warum hat die Majestät das denn gehört, du Riesenwanstling? Von mir gehört hat die kleine Majestät, die saublöde Majestät mit der goldenen Krone auf dem goldenen Thron, weil ich nach euch geschickt hab. Und hau mich nicht, ich darf das sagen, du kennst doch die Narrenfreiheit. Wenn ich die Majestät nicht saublöd nenne, wer soll das sonst tun? Einer muss es doch. Und du darfst nicht.»
Ulenspiegel grinste. Es war ein fürchterliches Grinsen, böse und spöttisch, und da der dicke Graf nicht mehr wusste, wie ihr
Gespräch weitergegangen war, verwandte er ein halbes Dutzend Sätze darauf, dieses Grinsen zu beschreiben, um dann eine Seite lang über den tiefen, satten und erquickenden Schlaf zu schwärmen, den er auf dem Boden einer Klosterzelle bis zur Mittagsstunde des nächsten Tages gefunden hatte: Morpheus, freundlicher Gott der Ruhe, Friedenschenker, Freudenstifter, seliger Hüter des nächtlichen Vergessens, in dieser Nacht, da ich dich nötiger brauchte denn je, warst du für mich da, bis ich erwachte - verjüngt, glücklich, beinahe gesegnet.
Diese letzte Formulierung spiegelt weniger die Gefühle des jungen Mannes als die Glaubenszweifel des alten wider, über die er sich an anderer Stelle in bewegenden Worten ausließ. Aus Scham hingegen verschwieg er ein Detail, das ihm noch aus einem Zeitabstand von fünfzig Jahren die Röte ins Gesicht trieb. Als sie nämlich gegen Mittag auf dem Hof zusammenkamen, um sich vom Abt und drei ausgemergelten Mönchen zu verabschieden, die mehr wie Gespenster aussahen als wie echte Menschen, fiel ihnen auf, dass sie vergessen hatten, für Ulenspiegel ein Pferd mitzubringen.
Tatsächlich hatte keiner von ihnen darüber nachgedacht, worauf der Mann, den sie nach Wien bringen sollten, eigentlich reiten würde. Denn natürlich gab es hier keine Pferde zu kaufen oder zu leihen, es gab nicht einmal Esel. Alle Tiere waren gegessen worden oder davongelaufen.
«Na, dann sitzt er halt hinter mir auf», sagte Franz Kärrnbauer.
«Das taugt mir nicht», sagte Ulenspiegel. Bei Tageslicht sah
er in seiner Mönchskutte noch dünner aus. Er stand vornübergebeugt, seine Wangen waren hohl, seine Augen lagen tief in den Höhlen. «Der Kaiser ist mein Freund. Ich will ein Pferd für mich.»
«Ich schlag dir die Zähne aus», sagte Franz Kärrnbauer ruhig, «und ich brech dir die Nase. Ich tu das. Schau mich an. Du weißt, dass ich's tue.»
Ulenspiegel sah einen Moment nachdenklich zu ihm auf, dann stieg er hinter Franz Kärrnbauer in den Sattel.
Karl von Doder legte dem dicken Grafen eine Hand auf die Schulter und flüsterte: «Das ist er nicht.»
«Wie bitte?»
«Das ist er nicht!»
«Wer ist was nicht?»
«Ich glaube, das ist nicht der, den ich gesehen habe.»
«Was?»
«Damals auf dem Jahrmarkt. Ich kann's nicht ändern. Ich glaube, er ist es nicht.»
Der dicke Graf sah den Secretarius einen langen Moment an. «Seid Ihr Euch sicher?»