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«Nicht ganz sicher. Es ist Jahre her, und er war über mir auf einem Seil. Wie kann man sich da sicher sein!»

«Reden wir nicht mehr davon», sagte der dicke Graf.

Der Abt segnete sie mit zittrigen Händen und riet ihnen, die Städte zu meiden. Die Residenzstadt München habe wegen des Ansturms der Hilfesuchenden die Tore geschlossen, niemand dürfe mehr hinein, die Straßen quöllen über vor Hungrigen, die

Brunnen seien verdreckt. Ähnlich stehe es um Nürnberg, wo die Protestanten lagerten. Es werde behauptet, dass Wrangel und Turenne mit Verbänden aus Nordwesten kämen, daher sei es am besten, in weiter Schleife nordöstlich auszuweichen, zwischen Augsburg und Ingolstadt hindurch. Bei Rottenburg könne man geradewegs nach Osten, von dort stehe der Weg nach Niederösterreich offen. Der Abt schwieg und kratzte sich an der Brust - eine gewöhnliche Bewegung scheinbar, aber jetzt, wo der dicke Graf von dem Büßerhemd wusste, konnte er sie kaum mitansehen. Es gebe Gerüchte, dass beide Seiten es auf eine Feldschlacht anlegten, bevor in Westfalen der Waffenstillstand ausgerufen werde. Jede Seite wolle vorher noch ihre Lage verbessern.

«Vielen Dank», sagte der dicke Graf, der kaum etwas mitbekommen hatte. Geographie war nie seine Sache gewesen. In der Bibliothek seines Vaters standen mehrere Bände von Matthäus Merians Topographia Germaniae, einige Male hatte er mit Schaudern darin geblättert. Wozu sollte man sich all das merken? Wozu all diese Orte aufsuchen, wenn man doch auch in der Mitte bleiben konnte, im Zentrum der Welt, in Wien?

«Geh mit Gott», sagte der Abt zu Ulenspiegel.

«Bleib mit Gott», antwortete der Narr vom Pferd herab. Er hatte seine Arme um Franz Kärrnbauer gelegt und sah so schmal und schwach aus, dass man sich kaum vorstellen konnte, wie er sich auf dem Pferd halten sollte.

«Eines Tages bist du vor unseren Toren gestanden», sagte der Abt. «Wir haben dich aufgenommen, haben nicht gefragt, welches dein Bekenntnis ist. Über ein Jahr warst du hier, jetzt gehst du wieder.»

«Schöne Rede», sagte Ulenspiegel.

Der Abt schlug das Kreuz. Der Gaukler wollte es ihm nachtun, kam aber offenbar durcheinander - seine Arme verhakten sich, seine Hände fanden nicht dorthin, wohin sie sollten. Der Abt wandte sich ab, der dicke Graf musste das Lachen unterdrücken. Zwei Mönche öffneten das Tor.

Sie kamen nicht weit. Schon nach wenigen Stunden gerieten sie in einen Wolkenbruch, wie der dicke Graf noch keinen erlebt hatte. Eilig saßen sie ab und hockten sich unter die Pferde. Der Regen strömte, prasselte, brauste um sie, als löste der Himmel sich auf.

«Wenn es aber nicht der Ulenspiegel ist?», flüsterte Karl von Doder.

Zwei Dinge, die sich nicht unterscheiden ließen, seien dasselbe Ding, sagte der dicke Graf. Entweder sei dieser Mann Ulenspiegel, der im Kloster Andechs Zuflucht gesucht habe, oder es handle sich um einen Mann, der im Kloster Zuflucht gesucht habe und sich Ulenspiegel nenne. Gott wisse es, aber solange der sich nicht einmische, gebe es keinen Unterschied.

Da hörten sie Schüsse aus der Nähe. Hastig saßen sie auf, gaben den Pferden die Sporen und sprengten übers freie Feld. Der Atem des dicken Grafen ging pfeifend und schwer, sein Rücken schmerzte. Regentropfen schlugen ihm ins Gesicht. Es schien ihm eine Ewigkeit, bis die Dragoner ihre Pferde zügelten.

Mit unsicheren Beinen stieg er ab und tätschelte seinem Pferd den Hals. Das Tier schürzte die Lippen und schnaubte. Zu ihrer Linken war ein kleiner Fluss, auf der anderen Seite stieg der Hang zu einem Wald an, wie der dicke Graf seit Melk keinen mehr gesehen hatte.

«Das muss der Streitheimer Forst sein», sagte Karl von Doder.

«Dann sind wir zu weit im Norden», sagte Franz Kärrnbauer.

«Nie im Leben ist das der Streitheimer Forst», sagte Stefan Purner.

«Na sicher ist er das», sagte Karl von Doder.

«Nie», sagte Stefan Purner.

Da hörten sie Musik. Sie hielten den Atem an und horchten: Trompeten und Trommeln, eine fröhliche Marschmusik, die in die Beine ging. Der dicke Graf bemerkte, dass seine Schultern im Takt zuckten.

«Weg hier», sagte Konrad Purner.

«Nicht auf die Pferde», zischte Karl von Doder. «In den Wald!»

«Vorsicht», sagte der dicke Graf, um wenigstens den Anschein zu wahren, dass er es war, der hier befahl. «Der Ulenspiegel muss beschützt werden.»

«Ihr armen Deppen», sagte der dürre Mann sanft. «Ihr Rinder. Ich bin es, der euch schützen muss.»

Schon schlossen sich die Wipfel über ihnen. Der dicke Graf sah das Widerstreben seines Pferdes, aber er hielt die Zügel fest und tätschelte die feuchten Nüstern, und das Tier fügte

sich. Bald war das Unterholz so dicht, dass die Dragoner die Säbel zogen, um einen Weg freizuschlagen.

Sie horchten wieder. Ein dunkles Brummen war zu hören, wo kam das her, was war das? Allmählich begriff der dicke Graf, dass es unzählige Stimmen waren, ein Ineinander von Gesang und Rufen und Gerede aus vielen Kehlen. Er spürte die Angst seines Pferdes, er streichelte die Mähne, das Tier schnaufte.

Später konnte er nicht mehr sagen, wie lange sie so gegangen waren, also behauptete er, dass es zwei Stunden gewesen seien. Die Stimmen hinter uns erstarben, schrieb er, die laute Stille des Waldes umschloss uns, Vögel schrien, Äste brachen, und der Wind wisperte zu uns aus den Kronen.

«Wir müssen nach Osten», sagte Karl von Doder, «nach Augsburg.»

«Der Abt hat gesagt, die Städte lassen keinen mehr ein», sagte der dicke Graf.

«Aber wir sind Boten des Kaisers», sagte Karl von Doder.

Dem dicken Grafen fiel auf, dass er kein Papier mitführte, das es bewies; keinen Ausweis, keinen Freibrief, keinerlei Urkunde. Er hatte nicht danach gefragt, und offenbar hatte sich in der Verwaltung der Hofburg niemand dafür zuständig gefühlt, so etwas auszustellen.

«Wo ist Osten?», fragte Franz Kärrnbauer.

Stefan Purner zeigte irgendwohin.

«Das ist Süden», sagte sein Bruder.

«Ihr seid ja Deppen», sagte Ulenspiegel fröhlich. «Scheißzwerge seid ihr und könnt gar nichts! Westen ist, wo

wir sind, also ist Osten überall.»

Franz Kärrnbauer holte aus, aber Ulenspiegel duckte sich mit einer Schnelligkeit, die man ihm nicht zugetraut hätte, und sprang hinter einen Baumstamm. Der Dragoner folgte ihm, doch Ulenspiegel glitt wie ein Schatten um den Stamm und verschwand hinter einem anderen und war nicht mehr zu sehen.

«Kriegst mich nicht», hörten sie ihn kichernd sagen, «ich kenn den Wald. Ich bin Waldgeist geworden, als ich ein kleiner Junge war.»

«Ein Waldgeist?», fragte der dicke Graf beunruhigt.

«Ein weißer Waldgeist.» Ulenspiegel trat lachend aus dem Gebüsch. «Für den großen Teufel.»

Sie machten Rast. Ihre Vorräte waren fast aufgebraucht. Die Pferde knabberten an Baumstämmen. Sie ließen die Flasche mit dem Dünnbier herumgehen, jeder nahm einen Schluck. Als sie beim dicken Grafen ankam, war nichts mehr drin.

Müde gingen sie weiter. Der Wald lichtete sich, die Bäume standen in breiteren Abständen, das Unterholz war nicht mehr dicht, die Pferde konnten gehen, ohne dass man ihnen den Weg freischneiden musste. Dem dicken Grafen fiel auf, dass keine Vögel mehr zu hören waren: kein Spatz, keine Amsel, keine Krähe. Sie stiegen auf und ritten aus dem Wald.

«Mein Gott», sagte Karl von Doder.

«Barmherziger Herr», sagte Stefan Purner.

«Heilige Jungfrau», sagte Franz Kärrnbauer.

Als er später zu schildern versuchte, was sie gesehen hatten,

musste der dicke Graf feststellen, dass er das nicht konnte. Es überstieg seine Fähigkeiten als Schriftsteller. Es überstieg auch seine Fähigkeiten als vernünftiger Mensch: Noch aus der Distanz eines halben Jahrhunderts sah er sich nicht imstande, es in Sätze zu fassen, die wirklich etwas bedeuteten. Natürlich beschrieb er den Anblick dennoch. Es war einer der wichtigsten Momente seines Lebens, und der Umstand, dass er Zeuge der letzten Feldschlacht des Dreißigjährigen Krieges geworden war, bestimmte von nun an, wer er war und was die Menschen von ihm dachten - der Herr Oberhofmeister habe die Schlacht von Zusmarshausen miterlebt, hieß es seitdem, wenn er jemandem vorgestellt wurde, worauf er mit routinierter Bescheidenheit abwehrte: «Lassen wir das, man kann es nicht gut erzählen.»