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Was wie ein Gemeinplatz klang, war die Wahrheit. Man konnte es nicht gut erzählen. Er jedenfalls konnte es nicht. Schon als er auf der Anhöhe aus dem Wald ritt und jenseits des im Tal liegenden Flusses das sich bis zum Horizont erstreckende Heer des Kaisers mit seinen ausgebauten Kanonenstellungen, eingegrabenen Musketieren und den in geordneten Hundertschaften stehenden Pikenieren sah, deren Piken ihm vorkamen wie ein zweiter Wald, war es ihm, als ob er etwas erlebte, das nicht in die Wirklichkeit gehörte. Dass so viele Menschen zusammenkommen und sich formieren konnten, schien so schwer zu wiegen, dass alles aus dem Gleichgewicht geriet. Der dicke Graf musste die Mähne des Pferdes packen, um nicht herunterzurutschen.

Dann erst wurde ihm klar, dass er nicht nur die kaiserliche Armee vor Augen hatte. Zu ihrer Rechten fiel der Hang steil ab, drunten war eine breite Straße, auf der, schweigend und ohne Musik, sodass man nur die Hufe auf dem Stein hörte, die Reiterei der vereinten Kronen Frankreichs und Schwedens heranzog: eine Reihe hinter der anderen, auf eine einzige kleine Brücke zu.

Und da geschah es, dass ebendiese Brücke, die doch eben noch so solide dagestanden hatte, sich in ein Wölkchen auflöste. Der dicke Graf musste fast lächeln ob dieses Zaubertricks. Heller Rauch stieg auf, die Brücke war weg, und jetzt erst, da der Rauch schon im Wind davontrieb, erreichte sie der Knall. Wie schön, dachte der dicke Graf und schämte sich sofort und dachte gleich darauf noch einmal, wie zum Trotz: Doch, das war schön.

«Weg hier», schrie Karl von Doder.

Zu spät. Die Zeit riss sie mit wie eine Stromschnelle. Drüben, auf der anderen Seite des Flusses, stiegen Wölkchen auf, ein paar Dutzend waren es, weiß und schillernd. Unsere Kanonen, dachte der dicke Graf, das ist sie, die Artillerie unseres Kaisers, doch noch bevor er mit dem Gedanken zu Ende war, stiegen von dort, wo die Musketiere standen, mehr Wolken auf, winzige, aber unzählige, für einen Moment noch scharf voneinander getrennt, dann schon vermischt zu einer einzigen Wolke, und da rollte auch der Lärm heran, und der dicke Graf hörte die Schüsse peitschen, deren Dampf er soeben gesehen hatte, und als Nächstes sah er, wie die Reiter des Feindes, die noch immer auf den Fluss zuhielten, das merkwürdigste Kunststück vollführten. In ihren Reihen waren mit einem Mal Schneisen, eine hier, eine gleich daneben, eine in einigem Abstand. Während er noch seine Augen anstrengte, um zu begreifen, was er sah, hörte er ein Geräusch, wie er es noch nie vernommen hatte, ein Schreien aus der Luft. Franz Kärrnbauer warf sich vom Pferd, überrascht schaute der dicke Graf zu, wie er durchs Gras rollte, und fragte sich, ob er nicht das Gleiche tun sollte, aber das Pferd war hoch und der Boden voll harter Steine. Da kam Karl von Doder ihm zuvor. Er sprang aber nicht in eine Richtung, sondern in zwei, so als hätte er sich nicht entscheiden können und von zwei Möglichkeiten beide ergriffen.

Zunächst dachte der dicke Graf, dass er wohl träumen müsse, doch dann sah er, dass Karl von Doder tatsächlich an zwei Orten lag: der eine Teil rechts, der andere links vom Pferd, und der auf der rechten bewegte sich noch. Den dicken Grafen erfasste ein Abscheu von ungeheurem Ausmaß, und da fiel ihm zu allem Überfluss die Gans ein, die Franz Kärrnbauer vor Tagen erschossen hatte; er dachte daran, wie er ihren Kopf hatte explodieren sehen, und begriff, dass er deshalb so erschrocken gewesen war, weil jenes Ereignis dieses angekündigt hatte, gegen die Stromrichtung der Zeit. Inzwischen hatte sich die Frage, ob er vom Pferd sollte oder nicht, schon erübrigt; sein Pferd hatte sich hingelegt, einfach so, und als er seitlich auf dem Boden aufschlug, bemerkte er, dass es wieder angefangen hatte zu regnen, aber es war nicht

der übliche Regen, nicht Wasser war es, das die Erde spritzen machte, sondern unsichtbare Dreschflegel bearbeiteten den Boden. Er sah Franz Kärrnbauer robben, er sah einen Pferdehuf im Gras liegen, an dem kein Pferd war, er sah Konrad Purner den Hang hinabreiten, er sah, dass sich der Rauch nun auch um die Reihen der kaiserlichen Soldaten jenseits des Flusses schlang, die er eben noch deutlich hatte erkennen können, weg waren sie, bloß an einer Stelle riss der Wind den Qualm fort und gab den Blick frei auf die zwischen ihren Piken kauernden Männer, die jetzt aufstanden, alle im gleichen Moment, und mit aufgerichteten Waffen rückwärts gingen wie ein einziger Mann, wie schafften sie es, dass ihre Bewegungen so übereinstimmten? Offenbar wichen sie vor der Reiterei zurück, die jetzt doch durchs Wasser kam. Der Fluss schien zu kochen, Pferde bäumten sich auf, Reiter fielen, aber andere Reiter erreichten das Ufer, das Wasser hatte sich rot gefärbt, und die rückwärts gehenden Lanzenträger verschwanden im Qualm.

Er sah sich um. Das Gras stand ruhig. Der dicke Graf rappelte sich auf. Seine Beine gehorchten ihm, nur seine rechte Hand spürte er nicht. Als er sie vor die Augen hielt, merkte er, dass ein Finger fehlte. Er zählte nach. Tatsächlich, vier Finger, etwas stimmte nicht, einer fehlte, es sollten fünf sein, es waren vier. Er spuckte Blut auf den Boden. Er musste wieder in den Wald. Nur im Wald war Deckung, nur im -

Formen setzten sich zusammen, farbige Flächen entstanden, und während dem dicken Grafen klarwurde, dass er wohl ohnmächtig gewesen war und gerade wieder zu sich kam, erfasste ihn eine schmerzhafte Erinnerung, aufgestiegen wie aus dem Nichts. Er dachte an ein Mädchen, das er mit neunzehn geliebt hatte; sie hatte ihn damals ausgelacht, doch hier war sie wieder, und das Wissen, dass sie nie zusammenfinden würden, erfüllte jede Faser seines Wesens mit Traurigkeit. Über sich sah er den Himmel. Fern und voller zerfaserter Wölkchen. Einer beugte sich über ihn. Er kannte ihn nicht, er kannte ihn doch, jetzt erkannte er ihn.

«Steh auf!»

Der dicke Graf blinzelte.

Ulenspiegel holte aus und schlug ihm ins Gesicht.

Der dicke Graf stand auf. Seine Wange schmerzte. Seine Hand schmerzte noch mehr. Am meisten schmerzte der Finger, der fehlte. Dort drüben lag das, was von Karl von Doder übrig war, daneben lagen zwei Pferde, und da war der tote Konrad Purner. In der Weite hing Nebel, darin zuckten Blitze. Immer noch trabten Reiter heran, eine Schneise öffnete und schloss sich wieder, das musste das Werk der Zwölfpfünder sein. Am Fluss schwärmten Reiter und behinderten einander und schwangen Peitschen, Pferde platschten ins Wasser, Männer brüllten - aber er sah es nur daran, dass ihre Münder sich bewegten, hören konnte er sie nicht. Der Fluss war voller Pferde und Menschen, mehr und mehr schafften es ans Ufer und verschwanden im Qualm.

Ulenspiegel setzte sich in Bewegung, der dicke Graf folgte ihm. Der Wald war nur ein paar Schritte entfernt. Ulenspiegel

begann zu rennen. Der dicke Graf rannte hinterher.

Neben ihm spritzte Gras. Wieder hörte er den Schrei von vorhin, gellend aus der Luft, gellend neben ihm, etwas schlug auf und rollte brüllend auf den Fluss zu. Wie lebt man, dachte er, wie hält man es aus, wenn die Luft voll Metall ist? In diesem Moment warf Ulenspiegel die Arme nach außen und schleuderte sich mit der Brust voran auf die Wiese.

Der dicke Graf beugte sich über ihn. Ulenspiegel lag reglos. Seine Kutte war am Rücken gerissen, Blut lief heraus, schon lag er in einer Pfütze. Der dicke Graf wich zurück und rannte los, aber er stolperte und schlug hin. Er raffte sich hoch, rannte weiter, jemand rannte neben ihm, wieder spritzte das Gras von Kugeln, warum schossen sie hierhin, warum nicht auf den Feind, warum so weit daneben, und wer lief hier an seiner Seite? Der dicke Graf drehte den Kopf, es war Ulenspiegel.

«Bleib nicht stehen», zischte der.

Sie liefen in den Wald, die Bäume erstickten den Donner. Der dicke Graf wollte stehen bleiben, er hatte Herzstechen, aber Ulenspiegel fasste ihn und zog ihn tiefer ins Unterholz. Dort hockten sie sich hin. Eine Weile horchten sie auf die Kanonen. Ulenspiegel zog vorsichtig die zerrissene Kutte aus. Der dicke Graf sah ihm auf den Rücken, das Hemd war mit Blut beschmiert, aber keine Wunde war zu sehen.