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Über ihr war schon Geschiebe, Geschimpfe und Gestoße. Ein paar, die ihre Schuhe schnell gefunden hatten, machten sich davon, aber zwischen uns anderen brach eine Wut aus, so heftig, als hätte sie sich lange gestaut. Der Tischler Moritz Blatt und der Hufschmied Simon Kern schlugen mit Fäusten aufeinander ein, dass einer, der gedacht hätte, es ginge nur um Schuhe, das nicht hätte verstehen können, denn dafür hätte er wissen müssen, dass Moritz' Frau als Kind dem Simon versprochen gewesen war. Beide bluteten aus Nase und Mund, beide keuchten wie Pferde, und keiner traute sich dazwischenzugehen; auch Lore Pilz und Elsa Kohlschmitt waren scheußlich ineinander verbissen, aber schließlich hassten sie einander schon so lange, dass sie die Gründe nicht mehr wussten. Sehr wohl allerdings wusste man, warum die Semmler-Familie und die Leute vom Grünangerhaus aufeinander losgingen; es war wegen des strittigen Ackers und der alten Erbschaftssache, die noch von den Tagen des Schultheiß Peter her rührte, und auch wegen der Semmler- Tochter und ihres Kindes, das nicht von ihrem Ehemann war, sondern vom Karl Schönknecht. Wie ein Fieber griff die Wut um sich - wo man hinsah, wurde geschrien und geschlagen, Leiber wälzten sich, und jetzt drehte Martha den Kopf und sah nach oben.

Da stand er und lachte. Den Leib zurückgebogen, den Mund weit aufgerissen, mit zuckenden Schultern. Nur seine Füße standen ruhig, und seine Hüften schwangen mit dem Schaukeln des Seils. Martha kam es vor, als müsste sie nur besser hinsehen, dann würde sie begreifen, warum er sich so freute - aber da rannte ein Mann auf sie zu und sah sie nicht, und sein Stiefel traf ihre Brust, und ihr Kopf schlug auf den Boden, und als sie einatmete, war es, als ob Nadeln sie stachen. Sie rollte auf den Rücken. Seil und Himmel waren leer. Tyll Ulenspiegel war weg.

Sie raffte sich hoch. Sie humpelte vorbei an den sich prügelnden, sich wälzenden, einander beißenden, weinenden, schlagenden Leibern, an denen sie da und dort noch Gesichter erkannte; sie humpelte die Straße entlang, geduckt und mit gesenktem Kopf, aber gerade als sie ihre Haustür erreicht hatte, hörte sie hinter sich das Rumpeln des Planwagens. Sie drehte sich um. Auf dem Kutschbock saß die junge Frau, die er Nele genannt hatte, daneben kauerte reglos die Alte. Warum hielt sie denn keiner auf, warum folgte ihnen niemand? Der Wagen fuhr an Martha vorbei. Sie starrte ihm nach. Gleich würde er bei der Ulme sein, dann am Stadttor, dann fort.

Und da, als der Wagen schon fast die letzten Häuser erreicht hatte, rannte ihm doch einer hinterher, mit mühelos großen Schritten. Das Kalbsfell des Mantels sträubte sich um seinen Nacken wie etwas Lebendes.

«Ich hätt dich mitgenommen!», rief er, als er an Martha vorbeilief. Kurz bevor die Straße sich krümmte, holte er den Wagen ein und sprang auf. Der Torwächter war mit uns anderen am Hauptplatz, niemand hielt sie zurück.

Langsam ging Martha ins Haus, schloss die Tür hinter sich und legte den Riegel vor. Der Ziegenbock lag neben dem Ofen und sah fragend zu ihr auf. Sie hörte die Kühe brüllen, und vom Hauptplatz her gellte unser Geschrei.

Aber schließlich beruhigten wir uns. Noch vor dem Abend wurden die Kühe gemolken. Marthas Mutter kam zurück, und ihr war außer ein paar Schrammen wenig passiert, ihr Vater hatte einen Zahn verloren, und sein Ohr war eingerissen, ihrer Schwester war jemand so fest auf den Fuß getreten, dass sie noch einige Wochen hinkte. Aber es kamen der nächste Morgen und der nächste Abend, und das Leben ging weiter. In jedem Haus gab es Beulen und Schnitte und Schrammen und verstauchte Arme und fehlende Zähne, aber schon am Tag darauf war der Hauptplatz wieder sauber, und jeder trug seine Schuhe.

Wir sprachen nie über das, was geschehen war. Wir sprachen auch nicht über den Ulenspiegel. Ohne es ausgemacht zu haben, hielten wir uns daran; sogar Hans Semmler, den es so fürchterlich erwischt hatte, dass er von nun an im Bett liegen musste und nichts essen konnte außer dicker Suppe, tat so, als wäre es nie anders gewesen. Und auch die Witwe von Karl Schönknecht, den wir am nächsten Tag auf dem Gottesacker begruben, verhielt sich, als wäre es ein Schicksalsschlag gewesen und als wüsste sie nicht genau, wem das Messer in seinem Rücken gehört hatte. Nur das Seil hing noch tagelang über dem Platz, zitterte im Wind und war Spatzen und Schwalben ein Halt, bis der Priester, dem bei der Schlägerei besonders übel mitgespielt worden war, weil wir sein Großtun und seine Herablassung nicht mochten, wieder auf den Glockenturm steigen konnte, um es abzuschneiden.

Aber wir vergaßen auch nicht. Was geschehen war, blieb zwischen uns. Es war da, während wir die Ernte einholten, und es war da, wenn wir miteinander um das Korn handelten oder uns sonntags zur Messe versammelten, wo der Priester einen neuen Gesichtsausdruck hatte, halb Verwunderung und halb Furcht. Und besonders war es da, wenn wir auf dem Platz Feste begingen und wenn wir einander beim Tanzen ins Gesicht sahen. Dann kam es uns vor, als hätte die Luft mehr

Schwere, als schmeckte das Wasser anders und als wäre der Himmel, seitdem das Seil in ihm gehangen hatte, nicht mehr derselbe.

Und ein gutes Jahr später kam der Krieg doch zu uns. Eines Nachts hörten wir es wiehern, und dann lachte es draußen mit vielen Stimmen, und schon hörten wir das Krachen der eingeschlagenen Türen, und bevor wir noch auf der Straße waren, mit nutzlosen Heugabeln oder Messern bewaffnet, züngelten die Flammen.

Die Söldner waren hungriger als üblich, und sie hatten noch mehr getrunken. Lange schon hatten sie keine Stadt betreten, die ihnen so viel bot. Die alte Luise, die tief geschlafen und diesmal keine Vorahnung gehabt hatte, starb in ihrem Bett. Der Pfarrer starb, als er sich schützend vors Kirchenportal stellte. Lise Schoch starb, als sie versuchte, Goldmünzen zu verstecken, der Bäcker und der Schmied und der alte Lembke und Moritz Blatt und die meisten anderen Männer starben, als sie versuchten, ihre Frauen zu schützen, und die Frauen starben, wie Frauen eben sterben im Krieg.

Martha starb auch. Sie sah noch, wie die Zimmerdecke über ihr sich in rote Hitze verwandelte, sie roch den Qualm, bevor er so fest nach ihr griff, dass sie nichts mehr erkannte, und sie hörte ihre Schwester um Hilfe rufen, während die Zukunft, die sie eben noch gehabt hatte, sich in nichts auflöste: der Mann, den sie nie haben, und die Kinder, die sie nicht großziehen, und die Enkel, denen sie niemals von einem berühmten Spaßmacher an einem Vormittag im Frühling erzählen würde,

und die Kinder dieser Enkel, all die Menschen, die es nun doch nicht geben sollte. So schnell geht das, dachte sie, als wäre sie hinter ein großes Geheimnis gekommen. Und als sie die Dachbalken splittern hörte, fiel ihr noch ein, dass Tyll Ulenspiegel nun vielleicht der Einzige war, der sich an unsere Gesichter erinnern und wissen würde, dass es uns gegeben hatte.

Tatsächlich überlebten nur der lahme Hans Semmler, dessen Haus nicht Feuer gefangen hatte und der übersehen worden war, weil er sich nicht bewegen konnte, sowie Elsa Ziegler und Paul Grünanger, die heimlich miteinander im Wald gewesen waren. Als sie im Morgengrauen mit zerzausten Kleidern und wirren Haaren zurückkamen und nur Trümmer unter sich kräuselndem Rauch vorfanden, meinten sie für einen Augenblick, Gott der Herr hätte ihnen zur Strafe für ihre Sünde ein Wahngespinst geschickt. Sie zogen miteinander nach Westen, und für eine kurze Zeit waren sie glücklich.