Das war vor einer halben Ewigkeit gewesen. Zwei Stunden, vielleicht drei, warteten sie schon, auf niedrigen Bänkchen ohne Lehne, und der König wusste nicht mehr, wie er den Umstand, dass man ihn hier sitzen ließ, weiterhin übersehen sollte; aber er musste ihn unbedingt übersehen, denn eigentlich hätte er aufstehen und gehen müssen, doch niemand außer diesem Schweden konnte ihn zurück nach Prag bringen. Ob es wohl damit zu tun hatte, dass der Kerl Liz hatte heiraten wollen? Dutzende Briefe hatte er geschrieben, Liebesschwüre ohne Zahl, wieder und wieder hatte er sein Porträt geschickt, aber sie hatte ihn nicht gewollt. Daran lag es wohl. Das war seine kleinliche Rache.
Immerhin, vielleicht würde sein Vergeltungsbedürfnis nun gestillt sein. Vielleicht war das ein gutes Zeichen. Womöglich bedeutete das Warten, dass Gustav Adolf ihm helfen würde. Er rieb sich die Augen. Wie immer, wenn er aufgeregt war, fühlten seine Hände sich weich an, und in seinem Magen war ein Brennen, das kein Kräutertee lindern konnte. Damals, während des Kampfes vor Prag, war es so stark geworden, dass er sich seiner Koliken halber vom Schlachtfeld hatte entfernen müssen; daheim, umgeben von Dienern und Höflingen, hatte er auf den Ausgang gewartet, die schlimmste Stunde seines bisherigen Lebens - nur dass alles, was danach kommen sollte, jede einzelne Stunde, jeder Moment, noch viel schlimmer gewesen war.
Er hörte sich seufzen. Der Wind über ihnen ließ die Zeltplane knattern, draußen hörte er Männerstimmen, irgendwo schrie
jemand, entweder ein Verwundeter oder ein Mann, der an der Pest starb, in allen Lagern gab es Pestkranke. Davon sprach keiner, denn keiner wollte daran denken, man konnte nichts dagegen tun.
«Tyll», sagte der König.
«König?», sagte der Narr.
«Mach etwas.»
«Wird dir die Zeit lang?»
Der König schwieg.
«Weil er dich so lang warten lässt, weil er dich wie seinen Abdecker behandelt, wie seinen Friseur, wie seinen Scheißstuhlputzer, deshalb langweilst du dich, und ich soll dir etwas bieten, richtig?»
Der König schwieg.
«Das mach ich gern.» Der Narr beugte sich vor. «Sieh mir in die Augen.»
Zweifelnd blickte der König den Narren an. Die spitzen Lippen, das dünne Kinn, das gescheckte Wams, die Kappe aus Kälberfell; einmal hatte er ihn gefragt, warum er diesen Aufzug trage, ob er sich wohl als Tier verkleiden wolle, worauf der Narr geantwortet hatte: «O nein, als Mensch!»
Dann tat er wie geheißen und sah ihm in die Augen. Er blinzelte. Unangenehm war es, denn er war es nicht gewohnt, den Blick eines anderen Menschen auszuhalten. Aber alles war besser, als darüber sprechen zu müssen, dass der Schwede ihn warten ließ, und er hatte den Narren schließlich um Unterhaltung gebeten, und ein wenig war er jetzt auch
neugierig darauf, was er im Schilde führte. Er unterdrückte den Wunsch, die Augen zu schließen, er sah den Narren an.
Ihm fiel die weiße Leinwand ein. Sie hing in seinem Thronsaal und hatte ihm zunächst viel Freude gemacht. «Sag den Leuten, dass dumme Menschen das Bild nicht sehen, sag ihnen, nur Hochwohlgeborene sehen es, sag es einfach, und du wirst ein Wunder erleben!» Es war zum Brüllen gewesen, wie die Besucher sich verstellt und das weiße Bild kennerisch angeschaut und genickt hatten. Natürlich hatten sie nicht behauptet, das Bild tatsächlich zu sehen, niemand war so ungeschickt, und fast allen war sehr wohl klar, dass da bloß eine weiße Leinwand hing. Aber erstens waren sie sich eben doch nicht ganz sicher, ob nicht irgendeine Magie wirkte, und zweitens wussten sie ja nicht, ob Liz und er womöglich daran glaubten - und von einem König der Dummheit oder der niederen Abkunft verdächtigt zu werden, war letztlich genauso schlimm, wie dumm oder von niederer Abkunft zu sein.
Selbst Liz hatte nichts gesagt. Selbst sie, seine wunderbare, schöne, aber letztlich nicht immer sehr kluge Gemahlin, hatte das Bild angesehen und geschwiegen. Selbst sie war sich nicht sicher gewesen, natürlich nicht, sie war nur eine Frau.
Er hatte sie darauf ansprechen wollen. Liz, hatte er sagen wollen, lass den Unsinn, spiel mir nichts vor! Aber plötzlich hatte er es nicht gewagt. Denn wenn sie daran glaubte, ein klein wenig nur, wenn auch sie dachte, die Leinwand wäre verzaubert, was würde sie dann von ihm denken?
Und wenn sie zu anderen davon sprach? Wenn sie etwa
sagte: Seine Majestät, mein Gemahl, der König, er hat auf der Leinwand kein Bild gesehen, wie stand er dann da? Sein Status war fragil, er war ein König ohne Land, ein Vertriebener, ganz und gar angewiesen darauf, was man von ihm dachte, was sollte er tun, wenn sich herumsprach, dass in seinem Thronsaal ein magisches Bild hing, das nur Hochwohlgeborene sehen konnten, er aber nicht? Natürlich war da kein Bild, es war ein Scherz des Narren gewesen, aber jetzt, wo die Leinwand dort hing, hatte sie ihre eigene Macht entfaltet, und der König hatte mit Schrecken gemerkt, dass er sie weder abhängen noch irgendetwas darüber sagen konnte - weder konnte er behaupten, dass er ein Gemälde sah, wo kein Gemälde war, denn einen sichereren Weg, sich als Hohlkopf auszuweisen, gab es nicht, noch konnte er aussprechen, dass die Leinwand weiß war, denn wenn die anderen glaubten, dass dort ein verzaubertes Bild hing, dessen Macht die Niederen und Dummen entlarvte, so reichte das schon, ihn vollends zu blamieren. Nicht einmal zu seiner armen, lieben, beschränkten Frau konnte er davon sprechen. Es war vertrackt. Das alles hatte ihm der Narr angetan.
Wie lange starrte der Narr ihn jetzt schon an? Er fragte sich, was der Kerl wohl vorhatte. Ganz blau waren Tylls Augen. Sehr hell waren sie, fast wässrig, sie schienen schwach aus sich heraus zu leuchten, und in der Mitte des Augapfels war ein Loch. Dahinter war - ja, was? Dahinter war Tyll. Dahinter war die Seele des Narren, das, was er war.
Wieder wollte der König die Augen schließen, aber er hielt
dem Blick stand. Ihm wurde klar, dass das, was nach einer Seite hin passierte, auch auf der anderen geschah: So, wie er ins Innerste des Narren sah, so sah der jetzt in ihn.
Völlig unpassenderweise fiel ihm der Moment ein, als er zum ersten Mal seiner Gemahlin ins Auge gesehen hatte, am Abend nach ihrer Vermählung. Wie schüchtern sie gewesen war, wie furchtsam. Sie hatte sich die Hände vor das Mieder gehalten, das er eben aufschnüren wollte, aber dann hatte sie aufgeblickt, und er hatte ihr Gesicht im Kerzenschein gesehen, zum ersten Mal aus der Nähe, und da hatte er geahnt, wie es ist, wirklich eins zu sein mit einem anderen; aber als er die Arme ausgebreitet hatte, um sie an sich zu ziehen, war er gegen die Karaffe mit Rosenwasser auf dem Nachttisch gestoßen, und das Klirren der Scherben hatte den Bann gebrochen: Die Pfütze auf dem Ebenholzparkett, er sah sie noch vor sich, und darauf treibend, wie kleine Schiffchen, die Rosenblätter. Es waren fünf gewesen. Das wusste er noch genau.
Dann hatte sie zu weinen begonnen. Offenbar hatte ihr niemand erklärt, was in einer Hochzeitsnacht zu geschehen hatte, und so hatte er von ihr abgelassen, denn obgleich ein König stark sein musste, war er vor allem stets sanftmütig gewesen, und sie waren nebeneinander eingeschlafen wie Geschwister.
In einem anderen Schlafzimmer, daheim in Heidelberg, hatten sie später über die große Entscheidung beraten. Nacht für Nacht, wieder und wieder, hatte sie gezaudert und
abgeraten, wie es Frauenart war von alters her, und immer von neuem hatte er ihr erklärt, dass man ein solches Angebot nicht ohne den Willen Gottes bekomme und dass man sich dem Schicksal fügen müsse. Aber der Kaiser, hatte sie immer wieder gerufen, was denn mit dessen Zorn sei, niemand stehe gegen den Kaiser auf, und er hatte ihr geduldig erklärt, was ihm seine Juristen so überzeugend dargelegt hatten: dass die Annahme der böhmischen Krone kein Bruch des Reichsfriedens sei, weil Böhmen nicht zum Reich gehöre.
Und so hatte er sie schließlich überzeugt, wie er alle anderen überzeugt hatte. Er hatte ihr klargemacht, dass Böhmens Thron dem gebühre, den Böhmens Stände zum König wollten, und deshalb hatten sie Heidelberg verlassen und waren in Prag eingezogen, und nie würde er den Tag der Krönung vergessen, die gewaltige Kathedrale, den riesigen Chor, und bis heute hallte es in seinem Inneren wider: Du bist jetzt ein König, Fritz. Du bist einer der Großen.