Er konnte nur hoffen, dass er alles, was wichtig war, schon aufgeschrieben hatte.
Ohne Mühe erhob er sich und ging. Als er sich noch einmal umsah, merkte er, dass sie wieder zu dritt waren: der Narr, kniend in seinem Fellmantel, der König auf dem Boden, halb war sein Körper schon bedeckt vom Weiß, und er. Der Narr sah auf. Ihre Blicke begegneten einander. Der Narr hob die Hand an die Stirn und verneigte sich.
Er senkte grüßend den Kopf, wandte sich ab und ging davon. Nun, da er nicht mehr einsank, kam er viel schneller voran.
Hunger
« E war einmal», erzählt Nele.
Sie sind schon den dritten Tag im Wald. Hin und wieder dringt etwas Licht durchs Blätterdach, und trotz der Laubdecke über ihnen werden sie nass vom Regen. Sie fragen sich, ob der Wald je enden wird. Pirmin, der vor ihnen geht und sich dann und wann das Halbrund seiner Glatze kratzt, dreht sich nicht nach ihnen um; manchmal hören sie ihn murmeln, manchmal in einer fremden Sprache singen. Sie kennen ihn jetzt schon gut genug, um ihn nicht anzusprechen, denn das kann ihn wütend machen, und ist er einmal wütend, dauert es nicht mehr lang, und er tut ihnen weh.
«Eine Mutter hatte drei Töchter», erzählt Nele. «Sie besaßen eine Gans. Die legte ein güldnes Ei.»
«Was für ein Ei?»
«Ein goldenes.»
«Du hast gülden gesagt.»
«Das ist das Gleiche. Die Töchter waren sehr unterschiedlich, zwei waren böse, sie hatten schwarze Seelen, aber sie waren schön. Die jüngste dagegen war gut, und ihre Seele war weiß wie Schnee.»
«War sie auch schön?»
«Die Schönste der drei. Schön wie der junge Tag.»
«Der junge Tag?»
«Ja», sagt sie ärgerlich.
«Ist der schön?»
«Sehr.»
«Der junge Tag?»
«Sehr schön. Und die bösen Schwestern zwangen die jüngste zu arbeiten, ohne Unterlass bei Tag und Nacht, und die Finger scheuerte sie sich blutig, und ihre Füße wurden zu schmerzenden Klumpen, und das Haar wurde ihr grau vor der Zeit. Eines Tages brach das güldene Ei auf, und ein Däumling trat heraus und fragte: Jungfer, was wünschst du dir?»
«Wo war das Ei die ganze Zeit vorher?»
«Ich weiß nicht, das lag irgendwo.»
«Die ganze Zeit über?»
«Ja, das lag irgendwo.»
«Ein Ei aus Gold? Das hat wirklich keiner genommen?»
«Es ist ein Märchen!»
«Hast du's erfunden?»
Nele schweigt. Die Frage scheint ihr sinnlos. Die Silhouette des Jungen im Waldeszwielicht sieht sehr schmal aus - er geht etwas gebeugt, der Kopf vorgereckt über seiner Brust, sein Körper spillerig dürr, als wäre er eine zum Leben erweckte Holzfigur. Hat sie dieses Märchen erfunden? Sie weiß es selbst nicht. So viel hat sie erzählen hören, von ihrer Mutter und ihren zwei Tanten und der Großmutter, so viel von Däumlingen und güldenen Eiern und Wölfen und Rittern und Hexen und guten sowie bösen Schwestern, dass sie nicht nachzudenken braucht; fängt man einmal an, so geht es ganz von selbst weiter, und die Teile fügen sich zusammen, mal so und mal so, und schon hat man ein Märchen.
«Na, erzähl weiter», sagt der Junge.
Während sie davon erzählt, dass der Däumling die schöne Schwester auf deren Bitte hin in eine Schwalbe verwandelt, damit sie ins Schlaraffenland davonfliegen kann, wo alles gut ist und keiner Hunger leidet, fällt Nele auf, dass der Wald immer dichter wird. Eigentlich sollten sie sich der Stadt Augsburg nähern. Aber es sieht nicht danach aus.
Pirmin bleibt stehen. Er dreht sich schnüffelnd um sich selbst. Etwas hat seine Aufmerksamkeit erregt. Er beugt sich vor und betrachtet einen Birkenstamm, die weißschwarze Rinde, die Höhlung eines Astlochs.
«Was ist da?», fragt Nele und erschrickt im gleichen Moment über ihre Unbedachtheit. Sie spürt, dass der Junge neben ihr erstarrt.
Langsam dreht Pirmin ihnen seinen großen, unförmig kahlen Kopf zu. Seine Augen glitzern feindselig.
«Erzähl weiter», sagt er.
An ihren Armen und Beinen spürt sie noch genau, wo er sie gezwickt hat, und ihre Schulter schmerzt noch fast wie vor vier oder fünf Tagen, als er ihr mit kundigem Griff den Arm auf den Rücken gedreht hat. Der Junge wollte ihr helfen, aber da hat er ihm so fest in den Magen getreten, dass er für den Rest des Tages nicht mehr hat aufrecht stehen können.
Und doch ist Pirmin bisher nicht zu weit gegangen. Er hat
ihnen weh getan, aber nicht zu weh, und sooft er Nele auch angefasst hat, so war es doch nie oberhalb des Knies oder unterhalb des Nabels. Da er weiß, dass die beiden jederzeit davonlaufen können, hält er sie auf die einzig mögliche Art: Er bringt ihnen bei, was sie lernen wollen.
«Erzähl weiter», sagt er wieder. «Ich bitte nicht noch mal.»
Und Nele, die sich immer noch fragt, was er wohl in dem Astloch gesehen hat, erzählt davon, wie der Däumling und die Schwalbe ans Tor des Schlaraffenlands kommen, das bewacht wird von einem Wächter, groß wie ein Turm. Er sagt: Hier werdet ihr nie hungrig sein und nie durstig, aber ihr kommt nicht rein! Sie bitten ihn und betteln und flehen, doch er kennt keine Gnade, der Wächter hat ein steinernes Herz, das liegt zentnerschwer in seiner Brust, ohne zu schlagen, und so sagt er nur immerzu: Ihr kommt nicht rein! Ihr kommt nicht rein!
Nele schweigt. Die beiden blicken sie an und warten.
«Und?», fragt Pirmin.
«Sie sind nicht reingekommen», sagt Nele.
«Nie?»
«Sein Herz war aus Stein!»
Pirmin starrt sie einen Moment an, dann lacht er auf und geht weiter. Die beiden Kinder folgen ihm. Es ist bald Nacht, und anders als Pirmin, der ihnen kaum je etwas abgibt, haben sie nichts mehr zu essen.
Normalerweise erträgt Nele den Hunger besser als der Junge. Sie stellt sich dann vor, der Schmerz und die Schwäche in ihrem Inneren wären etwas, das anderswo hingehört und mit ihr nichts zu tun hat. Aber heute ist es der Junge, dem es besser gelingt. Sein Hunger fühlt sich an wie etwas Leichtes, ein Pochen und Schweben, fast ist ihm, als könnte er in die Luft steigen. Während die beiden hinter Pirmin hergehen, ist er mit seinen Gedanken noch bei der Lektion vom Vormittag: Wie machst du einen Menschen nach? Wie stellst du es an, jemandem kurz ins Gesicht zu sehen und dann er zu sein - deinen Körper zu halten, wie er den seinen hält, deine Stimme klingen zu lassen wie seine, zu blicken wie er?