geht es nicht mehr.
Für eine kleine Weile schafft der Junge es noch. Er denkt nicht, er hält sich innerlich am Rand, er blickt empor und sieht die Steine über sich. Zwischen den Blättern nimmt er das letzte Licht des dunkelnden Himmels wahr, er spürt Tropfen auf der Stirn und den Lippen, er hört das Knistern der Flammen, und da fühlt er schon, dass es nicht mehr lange gehen, dass gleich alles durcheinandergeraten wird - und um dem zuvorzukommen, lässt er den ersten Stein hinter sich ins Unterholz wirbeln, dann den zweiten, den dritten, den vierten und schließlich den letzten, und er betrachtet erstaunt seine leeren Hände: Wo sind sie hin? In gespielter Ratlosigkeit verbeugt er sich.
Nele klatscht wieder, Pirmin macht eine abfällige Handbewegung - aber daran, dass er nichts Böses sagt, erkennt der Junge, dass er es gut gemacht hat. Natürlich könnte er besser jonglieren, wenn Pirmin ihm seine Jonglierbälle leihen würde. Er hat sechs davon, aus dickem Leder, glatt und handlich, jeder in einer anderen Farbe, sodass sie zu einer bunt schillernden Fontäne werden, wenn man sie schnell genug fliegen lässt. Pirmin hat sie in dem Jutesack, den er stets über der Schulter trägt und den die Kinder nicht anzurühren wagen; versucht es, greift nur hinein, ich breche euch die Finger. Der Junge hat Pirmin jonglieren sehen, auf diesem oder jenem Marktflecken; er macht es sehr geschickt, aber nicht mehr ganz so agil, wie er wohl früher gewesen ist, und wenn man aufpasst, kann man sehen, dass er durch das
viele Starkbier allmählich den Sinn fürs Gleichgewicht verliert. Mit diesen Bällen könnte der Junge es wahrscheinlich schon besser. Aber genau deshalb wird Pirmin ihm nie gestatten, sie zu benützen.
Nun ist es Zeit für das Schauspiel. Der Junge nickt Nele zu, sofort springt sie heran und beginnt zu erzählen: Zwei Armeen versammelten sich einst vorm goldenen Prag, Trompeten schmettern, es funkeln der Krieger Harnische, und da ist der junge König, voll Mut, in Begleitung seiner englischen Gemahlin. Doch den Generälen des Kaisers ist nichts heilig, sie schlagen ihre Trommeln, hörst du sie? Es zieht das Verhängnis der Christenheit auf.
Die Kinder wechseln von einer Rolle in die nächste, sie ändern Tonfall, Stimme und Sprache, und da sie weder Tschechisch noch Französisch oder Latein können, sprechen sie das schönste Kauderwelsch. Der Junge ist ein Heerführer des Kaisers, er gibt das Kommando, er hört die Kanonen hinter sich brüllen, er sieht die böhmischen Musketiere ihre Waffen auf ihn richten, er hört den Befehl zum Rückzug, doch er schlägt ihn in den Wind, mit Rückzug gewinnt man nicht! Und er rückt vor, die Gefahr ist groß, aber das Glück ist mit ihm, die Musketiere weichen dem Mut seines Regiments, die Siegesfanfaren schmettern, er kann sie deutlicher hören als den Regen, und schon befindet er sich im goldenen Thronsaal des Kaisers. Milde sitzt die Majestät auf dem Thron, mit weicher Hand legt sie ihm eine Ordensschärpe um: Heute habt Ihr mein Reich gerettet, Generalissimus! Er sieht die Gesichter der Großen des Reichs, er neigt den Kopf, sie beugen sich in Demut. Da tritt eine edle Frau auf ihn zu: Auf ein Wort, ich habe einen Auftrag! Ruhig spricht er: Was es auch sei, und koste es mein Leben, denn ich liebe Euch. Ich weiß das, edler Herr, antwortet sie, doch Ihr müsst es vergessen. Hört meinen Auftrag. Ich will, dass Ihr -
Etwas schlägt an seinen Kopf; Funken sprühen, die Beine knicken dem Jungen ein, er braucht einen Moment, um zu begreifen, dass Pirmin etwas geworfen hat. Er betastet seine Stirn, er beugt sich vor, da liegt der Stein. Wieder einmal ist er beeindruckt, wie gut Pirmin zielen kann.
«Ihr Ratten», sagt Pirmin. «Nichtskönner. Glaubt ihr, irgendwer will das sehen? Wer mag spielende Kinder anglotzen? Macht ihr das für euch? Dann geht zurück zu den Eltern, sofern die nicht verbrannt sind. Oder macht ihr's für Zuschauer? Dann müsst ihr besser sein. Bessere Geschichte, besseres Spiel, schneller, mehr Kraft, mehr Witz, mehr von allem! Dann müsst ihr's geprobt haben!»
«Seine Stirn!», schreit Nele. «Er blutet!»
«Aber nicht genug. Er soll viel mehr bluten. Wer sein Geschäft nicht kann, der soll den ganzen Tag bluten.»
«Du Schwein!», schreit Nele.
Versonnen hebt Pirmin noch einen Stein auf.
Nele duckt sich.
«Wir fangen noch mal an», sagt der Junge.
«Heute mag ich nicht mehr», sagt Pirmin.
«Doch», sagt der Junge. «Doch, doch. Einmal noch.»
«Ich will nicht mehr, lasst es sein», sagt Pirmin.
Also setzen sie sich zu ihm. Das Feuer ist zu einem schwachen Glimmen heruntergebrannt. Dem Jungen kommt eine Erinnerung, von der er nicht weiß, ob er sie erlebt oder geträumt hat: Nachtlärm aus dem Dickicht, Summen und Krachen und Knacken von überall her, und ein großes Tier, der Kopf eines Esels, die Augen aufgerissen, ein Schrei, wie er ihn noch nie gehört hat, und das heiße, strömende Blut. Er schüttelt den Kopf, schiebt es weg, fasst nach Neles Hand. Ihre Finger drücken die seinen.
Pirmin kichert. Wieder einmal fragt sich der Junge, ob dieser Mann seine Gedanken liest. So schwer ist das nicht, das hat ihm schon Claus erklärt, man muss nur die richtigen Sprüche kennen.
Eigentlich ist Pirmin kein übler Kerl. Nicht ganz übel jedenfalls, nicht so durch und durch, wie es auf den ersten Blick scheint. Manchmal ist etwas Weiches an ihm, eine Nachgiebigkeit, die zur Milde werden könnte, müsste er nicht das harte Leben des fahrenden Volkes führen. Er ist eigentlich zu alt, um noch von Ort zu Ort zu ziehen, den Regen zu ertragen und unter Bäumen zu schlafen, aber irgendwie sind durch Pech und Missgeschick alle Gelegenheiten für eine Stellung mit Kost und Bleibe an ihm vorbeigegangen, und jetzt wird sich auch keine neue mehr finden. Entweder werden seine Knie in ein paar Jahren so schmerzen, dass er nicht mehr wandern kann, dann wird er im erstbesten Dorf bleiben müssen, bei irgendeinem Bauern, der genug Mitleid hat, ihn als
Taglöhner aufzunehmen, wofür er aber viel Glück brauchen wird, denn keiner will fahrendes Volk bei sich, es bringt Unglück und schlechtes Wetter und lässt die Nachbarn übel reden. Oder aber Pirmin wird betteln müssen, vor der Mauer von Nürnberg, Augsburg oder München, denn ins Innere der Städte lässt man Bettler nicht. Leute werfen den Unglücklichen Essen hin, aber es reicht nie für alle, die Stärkeren nehmen es. Dort also wird Pirmin verhungern.
Oder aber es kommt gar nicht so weit. Zum Beispiel, weil er irgendwo auf dem Weg strauchelt - feuchte Wurzeln sind tückisch, es ist kaum zu glauben, wie rutschig nasses Holz sein kann; oder ein Stein, auf den er beim Emporklettern tritt, liegt nicht so fest, wie es scheint. Dann wird er mit gebrochenem Bein am Wegrand liegen, und wer an ihm vorbeizieht, wird angewidert einen Bogen machen um den Kerl im Dreck, denn was sollte er auch tun, ihn tragen? Ihn wärmen und nähren, ihn versorgen wie einen Bruder? So etwas passiert in Heiligenlegenden, aber in der Wirklichkeit geschieht das nicht.
Was also ist das Beste, das Pirmin passieren kann? Dass sein Herz stehenbleibt. Dass mit einem Mal ein Stechen durch seine Brust geht, dass ihm unerwartet der Schmerz durch die Eingeweide fährt, während eines Auftritts auf dem Marktplatz: Er sieht zu den Bällen auf, dann ein Augenblick der hellsten Pein, dann ist alles vorbei.
Er könnte es selbst herbeiführen. Schwer wäre es nicht. Viele fahrende Leute tun es - sie kennen die Pilze, die einen sanft in den Schlaf führen. Nur hat Pirmin ihnen in einem schwachen
Moment gestanden, dass er sich nicht traut. Gott hat sein härtestes Gebot dagegengesetzt: Wer sich tötet, entflieht zwar der Unbill dieser Welt, aber er tut es um den Preis ewiger Marter in der nächsten. Und ewig - das bedeutet nicht einfach lange Zeit. Es bedeutet, dass die längste Zeit, die du dir nur ausmalen kannst, und seien es auch tausendmal so viele Jahre, wie ein Vogel braucht, um den Blocksberg mit seinem Schnabel wegzuwetzen, bloß der allerkleinste Teil des kleinsten Teils davon ist. Und obgleich es so lange dauert, gewöhnst du dich nicht an den Schrecken, nicht an die Einsamkeit, nicht an den Schmerz. So ist das eingerichtet. Wer also kann Pirmin übelnehmen, dass er ist, wie er ist?