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Dabei hätte alles anders kommen können. Er hat auch gute Zeiten gesehen. Er hatte einst eine Zukunft. Auf dem Höhepunkt seines Lebens hat er es bis nach London geschafft, und wann immer das Starkbier ihn betrunken macht, beginnt er, davon zu reden. Dann erzählt er von der Themse, so breit im Abendschein, von den Schenken und vom Gewimmel auf den Straßen - derart riesig sei die Stadt, dass man tagelang gehen könne und nicht ihr Ende erreiche! Und Theater gebe es auf Schritt und Tritt. Er habe die Sprache nicht verstanden, aber die Anmut der Schauspieler und die Wahrheit in ihren Gesichtern habe ihn ergriffen wie später nichts anderes mehr.

Er ist damals jung gewesen. Er war einer der vielen Schausteller, die mit dem Tross des jungen Kurprinzen Friedrich über den Kanal gekommen sind. Der ist nach England gereist, um Prinzessin Elisabeth zu heiraten, und da die

Engländer Schausteller schätzen, hat er alles mitgebracht, was sein Land zu bieten hat: Bauchredner, Feuerschlucker, Kunstrülpser, Puppenspieler, Schaukämpfer, Handgeher, Bucklige, malerische Krüppel und eben auch Pirmin. Am dritten Tag der Festlichkeit hat Pirmin im Haus eines gewissen Bacon vor all den großen Herren und Damen seine Bälle geworfen. Die Tische waren mit Blüten bedeckt, der Hausherr stand mit klugem, bösem Lächeln am Eingang des Saals.

«Ich sehe sie noch vor mir», sagt Pirmin. «Die steife Prinzessin, der Bräutigam, der nicht weiß, wie ihm geschieht. Wir sollten ihn suchen!»

«Was sollen wir?»

«Ihn suchen! Es heißt, dass er von Land zu Land zieht und dem protestantischen Adel die Haare vom Kopf frisst. Es heißt, er tut noch so, als wäre er König. Es heißt, er schleppt seinen eigenen kleinen Hofstaat mit. Aber hat er einen Narren? Vielleicht ist ein alter Hofnarr das, was ein König ohne Land braucht.»

Oft hat Pirmin das gesagt. Auch das macht das viele Bier: Er wiederholt sich, und es ist ihm egal. Aber jetzt am Feuer kaut er auf seinem letzten Stück Dörrfleisch, während die Kinder hungrig neben ihm sitzen und auf die Waldgeräusche horchen. Sie halten einander bei den Händen und versuchen, an Dinge zu denken, die sie vom Hunger ablenken.

Mit etwas Übung geht das ganz gut. Kennt man den Hunger wirklich, so weiß man auch, wie man es anstellt, ihn für eine Weile zu ersticken. Man muss jedes Bild von essbaren Dingen

aus sich verbannen, muss die Fäuste ballen, sich zusammennehmen, es einfach nicht erlauben. Stattdessen kann man ans Jonglieren denken, das sich nämlich auch in Gedanken üben lässt - man wird dadurch besser. Oder man stellt sich vor, wie man sich übers Seil bewegt, wundersam hoch, über Gipfel und Wolken. Der Junge blinzelt in die Glut. Der Hunger macht einen leichter. Und während er ins rote Glimmen sieht, ist ihm, als sähe er unter sich den hellen, weiten Tag, als würde die Sonne ihn blenden.

Nele legt den Kopf an seine Schulter. Mein Bruder, denkt sie. Er ist jetzt alles, was ihr bleibt. Sie denkt ans Zuhause, das sie nicht wiedersehen wird, an die Mutter, die meist traurig gewesen ist, an den Vater, der sie schlimmer geschlagen hat als Pirmin, und an die Geschwister und Knechte. Sie denkt an das Leben, das vor ihr gelegen hat: den Steger-Sohn, die Arbeit in der Bäckerei. Natürlich erlaubt sie sich nicht, an das Brot zu denken - aber jetzt, da sie daran gedacht hat, dass sie nicht daran denken darf, ist es doch passiert, und sie sieht den weichen Brotlaib vor sich, und sie kann ihn riechen, und sie spürt, wie er sich zwischen ihren Zähnen anfühlen würde.

«Lass es!», sagt der Junge.

Und da muss sie lachen und fragt sich, woher er weiß, was sie gedacht hat. Aber es hat gewirkt, das Brot ist weg.

Pirmin ist vornübergesunken. Wie ein schwerer Sack liegt er auf dem Boden, sein Rücken hebt und senkt sich, und er schnarcht wie ein Tier.

Besorgt sehen die Kinder sich um.

Kalt ist es.

Bald wird das Feuer erloschen sein.

Die große Kunst von Licht und Schatten

Adam Olearius, der Gottorfer Hofmathematiker, Kurator des herzoglichen Kuriositätenkabinetts und Autor eines Berichts über eine strapaziöse Gesandtschaftsreise nach Russland und Persien, von der er wenige Jahre zuvor fast unbeschadet zurückgekehrt war, war eigentlich nicht auf den Mund gefallen, doch heute fiel ihm vor Unruhe das Sprechen schwer. Denn vor ihm stand, umringt von einem halben Dutzend Sekretären in schwarzen Kutten, bedächtig, aufmerksam und seine unbegreiflich reiche Bildung wie eine leichte Bürde tragend, kein anderer als Pater Athanasius Kircher, Professor des Collegium Romanum.

Obwohl es ihr erstes Treffen war, behandelten sie einander, als hätten sie sich schon ihr halbes Leben lang gekannt. So war es unter Gelehrten üblich. Olearius erkundigte sich, was den ehrwürdigen Kollegen hergeführt habe, wobei er absichtlich im Unklaren ließ, ob er damit das Heilige Römische Reich Deutscher Nation oder Holstein oder das hinter ihnen aufragende Schloss Gottorf meinte.

Kircher überlegte eine Weile, als müsste er die Antwort aus den Tiefen seines Gedächtnisses hervorholen, bevor er mit leiser und etwas zu hoher Stimme erwiderte, dass er die Ewige Stadt verschiedener Vorhaben wegen verlassen habe, deren

wichtigstes es sei, ein Heilmittel gegen die Pest zu finden.

«Gott steh uns bei», sagte Olearius, «ist sie wieder in Holstein?»

Kircher schwieg.

Es irritierte Olearius, wie jung sein Gegenüber war: Kaum vermochte man sich vorzustellen, dass dieser Kopf mit den weichen Gesichtszügen das Rätsel der Magnetkraft, das Rätsel des Lichts, das Rätsel der Musik sowie angeblich auch das Rätsel der Schrift des alten Ägypten gelöst hatte. Olearius war sich der eigenen Bedeutung bewusst und galt nicht als einer der Bescheidensten. Aber in Gegenwart dieses Mannes drohte ihm die Stimme zu versagen.

Es verstand sich von selbst, dass zwischen Gelehrten keine Religionsfeindschaft herrschte. Vor fast einem Vierteljahrhundert, als der große Krieg begonnen hatte, wäre das noch anders gewesen, aber die Dinge hatten sich geändert. In Russland hatte der Protestant Olearius sich mit französischen Mönchen angefreundet, und es war kein Geheimnis, dass Kircher mit vielen calvinistischen Gelehrten im Briefwechsel stand. Nur vorhin, als Kircher nebenher den Tod des schwedischen Königs bei der Schlacht von Lützen erwähnt und in diesem Zusammenhang von der Gnade des gütigen Herrgotts gesprochen hatte, hatte sich Olearius innerlich Gewalt antun müssen, um nicht zu antworten, dass Gustav Adolfs Tod eine Katastrophe gewesen sei, in der jeder vernünftige Mensch die Hand des Teufels habe erkennen müssen.

«Ihr sagt, dass Ihr die Pest kurieren wollt.» Olearius, noch immer ohne Antwort, räusperte sich. «Und Ihr sagt, dass Ihr dafür nach Holstein gekommen seid. Ist also die Pest zu uns zurückgekommen?»

Kircher ließ einen weiteren Moment verstreichen und betrachtete, wie es offenbar seine Gewohnheit war, seine Fingerspitzen, bevor er antwortete, dass er natürlich nicht hierhergekommen wäre, um ein Heilmittel gegen die Pest zu finden, wenn die Pest in dieser Gegend wüten würde, denn wo sie wüte, da finde man ja das Mittel, um ihre Ausbreitung zu verhindern, gerade nicht. Gottes Güte habe es so trefflich gefügt, dass der nach Abhilfe Forschende, statt sein Leben der Gefahr auszusetzen, eben die Plätze aufsuchen dürfe, an denen die Krankheit sich nicht ausgebreitet habe. Denn nur dort finde sich das, was ihr nach Naturkraft und Gotteswillen entgegenwirke.

Sie saßen auf der einzigen unzerstörten Steinbank des Schlossparks und tunkten Zuckerstangen in verdünnten Wein. Kirchers sechs Sekretäre standen in respektvollem Abstand und beobachteten sie gebannt.