Es war kein guter Wein, und Olearius wusste, dass auch Park und Schloss nicht eben beeindruckend waren. Marodeure hatten die alten Bäume gefällt, der Rasen war bedeckt von Brandflecken, und die Büsche waren so schadhaft wie die Fassade des Gebäudes, dem auch noch ein Stück des Daches fehlte. Olearius war alt genug, um sich noch an Tage zu erinnern, da das Schloss eine Zierde des Nordens gewesen war, der Stolz der jütischen Herzöge. Damals war er noch ein Kind gewesen und sein Vater ein einfacher Handwerker, aber der Herzog hatte seine Begabung erkannt und ihn studieren lassen, und später hatte er ihn als Gesandten nach Russland und ins ferne, strahlende Persien geschickt, wo er Kamele und Greife und Türme aus Jade und sprechende Schlangen gesehen hatte. Gerne wäre er dort geblieben, aber er hatte nun mal dem Herzog die Treue geschworen, und auch seine Frau wartete daheim, so meinte er wenigstens, denn dass sie inzwischen gestorben war, hatte er nicht gewusst. Also war er zurückgekommen ins kalte Reich, in den Krieg und ins traurige Dasein eines Witwers.
Kircher spitzte die Lippen, trank noch einen Schluck Wein, verzog kaum merklich das Gesicht, wischte sich mit einem rotfleckigen Tüchlein die Lippen ab und fuhr fort zu erklären, warum er hier war.
«Ein Experiment», sagte er. «Die neue Art, Gewissheit zu finden. Man macht Versuche. Man zündet etwa eine Kugel aus Schwefel, Bitumen und Kohle an, und sofort spürt man, dass der Anblick des Feuers Zorn auslöst. Ganz benommen wird man vor Ärger, wenn man sich im selben Raum aufhält. Das liegt daran, dass die Kugel Eigenschaften des roten Planeten Mars abspiegelt. In ähnlicher Weise kann man die wässrigen Eigenschaften des Neptun zur Beruhigung erregter Gemüter nutzen oder die verwirrenden des trügerischen Mondes zur Sinnesvergiftung. Ein nüchterner Mensch braucht sich nur kurze Zeit in der Nähe eines mondgleichen Magneten
aufzuhalten und wird so betrunken, als hätte er einen Schlauch Wein geleert.»
«Magneten machen betrunken?»
«Lest mein Buch. In meinem neuen Werk wird noch mehr darüber stehen. Es heißt Ars magna lucis et umbrae und beantwortet die offenen Fragen.»
«Welche?»
«Alle. Was nun die Schwefelkugel angeht: Der Versuch brachte mich darauf, einem Pestkranken einen Absud aus Schwefel und Schneckenblut verabreichen zu lassen. Denn einerseits treibt ihm der Schwefel die marsianischen Bestandteile der Krankheit aus, andererseits süßt das Schneckenblut als drakontologische Substitution das, was die Körpersäfte durchsäuert.»
«Bitte?»
Kircher betrachtete wieder seine Fingerspitzen.
«Schneckenblut substituiert Drachenblut?», fragte Olearius.
«Nein», sagte Kircher nachsichtig. «Drachengalle.»
«Und was führt Euch nun her?»
«Die Substitution hat ihre Grenzen. Der Pestkranke im Versuch ist trotz des Absuds gestorben, wodurch klar bewiesen ist, dass echtes Drachenblut ihn geheilt hätte. Also brauchen wir einen Drachen, und in Holstein lebt noch der letzte Drache des Nordens.»
Kircher blickte auf seine Hände. Sein Atem bildete Dampfwölkchen. Olearius fröstelte. Drinnen im Schloss war es nicht wärmer, es gab weit und breit keine Bäume mehr, und
das wenige Feuerholz verbrauchte der Herzog für sein Schlafzimmer.
«Ist er denn gesichtet worden, der Drache?»
«Natürlich nicht. Ein Drache, den man gesichtet hat, wäre ein Drache, der über die wichtigste Dracheneigenschaft nicht verfügt - jene nämlich, sich unauffindbar zu machen. Aus genau diesem Grund hat man allen Berichten von Leuten, die Drachen gesichtet haben wollen, mit äußerstem Unglauben zu begegnen, denn ein Drache, der sich sichten ließe, wäre a priori schon als ein Drache erkannt, der kein echter Drache ist.»
Olearius rieb sich die Stirn.
«In dieser Gegend ist offensichtlich überhaupt noch nie ein Drache bezeugt worden. Somit habe ich die Zuversicht, dass einer da sein muss.»
«Aber an vielen anderen Orten ist auch keiner bezeugt. Warum also gerade hier?»
«Erstens, weil die Pest sich aus diesem Landstrich zurückgezogen hat. Das ist ein starkes Zeichen. Zweitens habe ich ein Pendel benützt.»
«Das ist doch Magie!»
«Nicht, wenn man ein Magnetpendel nimmt.» Kircher blickte Olearius mit schimmernden Augen an. Das leicht abfällige Lächeln verschwand aus seinem Gesicht, als er sich vorbeugte und mit einer Einfachheit, die Olearius verblüffte, fragte: «Helft Ihr mir?»
«Wobei?»
«Den Drachen zu finden.»
Olearius tat so, als müsste er nachdenken. Dabei war es keine schwierige Entscheidung. Er war nicht mehr jung, er hatte keine Kinder, und seine Frau war tot. Er besuchte jeden Tag ihr Grab, und es geschah immer noch, dass er nachts aufwachte und zu weinen begann, so sehr fehlte sie ihm und so schwer lastete auf ihm die Einsamkeit. Ihn hielt hier nichts. Wenn ihn also der bedeutendste Gelehrte des Weltkreises zu einem gemeinsamen Abenteuer einlud, gab es nicht viel zu grübeln. Er holte Luft, um zu antworten.
Aber Kircher kam ihm zuvor. Er erhob sich und klopfte Staub von seiner Kutte. «Na gut, dann brechen wir morgen früh auf.»
«Ich würde gerne meinen Assistenten mitnehmen», sagte Olearius leicht verärgert. «Magister Fleming ist kundig und hilfreich.»
«Ja, bestens», sagte Kircher, der offensichtlich schon an etwas anderes dachte. «Also morgen früh, das ist gut, das bekommen wir hin. Könnt Ihr mich nun zum Herzog führen?»
«Er empfängt zurzeit nicht.»
«Keine Sorge. Wenn er erfährt, wer ich bin, wird er sich glücklich schätzen.»
Vier Kutschen holperten übers Land. Kalt war es, Morgendunst stieg bleich von den Wiesen auf. Die hinterste Kutsche war vom Boden bis zur Decke gefüllt mit Büchern, die Kircher vor kurzem in Hamburg erworben hatte, in der davor saßen drei Sekretäre und schrieben Manuskripte ab, so gut es im Fahren eben ging, in der davor waren zwei Sekretäre und schliefen, und in der vordersten führten Athanasius Kircher, Adam Olearius und dessen langjähriger Reisegefährte Magister Fleming ein Gespräch, das ein weiterer Sekretär, Feder und Papier zum Mitschreiben auf den Knien, aufmerksam verfolgte.
«Aber was tun wir, wenn wir ihn finden?», fragte Olearius.
«Den Drachen?», fragte Kircher.
Für einen Augenblick vergaß Olearius seine Verehrung und dachte: Ich halte ihn nicht mehr aus. «Ja», sagte er dann. «Den Drachen.»
Statt zu antworten, wandte sich Kircher Magister Fleming zu. «Verstehe ich richtig, Sie sind Musiker?»
«Ich bin Arzt. Vor allem schreibe ich Gedichte. Und ich habe in Leipzig die Musik studiert.»
«Lateinische Gedichte oder französische?»
«Deutsche.»
«Ja warum denn das?»
«Was tun wir, wenn wir ihn finden?», wiederholte Olearius.
«Den Drachen?», fragte Kircher, und jetzt hätte Olearius ihn am liebsten geohrfeigt.
«Ja», sagte Olearius. «Den Drachen!»
«Wir besänftigen ihn mit Musik. Ich darf voraussetzen, dass die Herren mein Buch Musurgia universalis studiert haben?»
«Musica?», fragte Olearius.
«Musurgia.»
«Warum nicht Musica?»
Kircher sah Olearius missbilligend an.
«Selbstverständlich», sagte Fleming. «Alles, was ich über Harmonie weiß, weiß ich von Eurem Buch.»
«Das höre ich oft. Das sagen fast alle Musiker. Es ist ein wichtiges Werk. Nicht mein wichtigstes, aber sehr wichtig zweifellos. Mehrere Fürsten wollen die von mir entworfene Wasserorgel konstruieren lassen. Und in Braunschweig plant man, mein Katzenklavier zu bauen. Mich verblüfft das ein wenig, es war doch vor allem ein Gedankenspiel, und ich bezweifle, dass die Resultate das Ohr erfreuen werden.»