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Auf der hinteren Seite des Dorfplatzes ist ein Zaun. Öffnet man das Gatter und geht über das große Feld, das auch dem Steger gehört, ist man schon wieder im Wald, und wenn man sich nicht zu sehr vor der Kalten fürchtet und immerfort weiterwandert und im Unterholz den Weg nicht verliert, so ist man in sechs Stunden beim Hof von Martin Reutter. Wenn einen dort der Hund nicht beißt und man weitergeht, ist man in drei Stunden im nächsten Dorf, das auch nicht viel größer ist.

Dort aber ist der Junge nie gewesen. Er war noch nie anderswo. Und obwohl mehrere Leute, die schon anderswo waren, ihm gesagt haben, dass es dort genauso sei wie hier, kann er nicht aufhören, sich zu fragen, wo man wohl hinkäme, wenn man einfach immer weiterginge, nicht bloß zum nächsten Dorf, sondern weiter und weiter.

Am Kopfende des Tisches spricht der Müller über Sterne. Seine Frau und sein Sohn und die Knechte und die Magd tun, als würden sie zuhören. Es gibt Grütze. Grütze gab es auch gestern, und Grütze wird es morgen wieder geben, mal mit mehr und mal mit weniger Wasser gekocht; es gibt jeden Tag Grütze, nur an den schlechteren Tagen gibt es statt Grütze nichts. Im Fenster hält eine dicke Scheibe den Wind ab, unter dem Herd, der zu wenig Wärme abstrahlt, balgen sich zwei Katzen, und in der Ecke der Stube liegt eine Ziege, die eigentlich drüben im Stall sein müsste, aber keiner mag sie hinauswerfen, denn alle sind müde, und ihre Hörner sind spitz. Neben der Tür und um das Fenster sind Pentagramme eingeritzt, der bösen Geister wegen.

Der Müller beschreibt, wie vor genau zehntausendsiebenhundertunddrei Jahren, fünf Monaten und neun Tagen der Mahlstrom im Herzen der Welt Feuer gefangen hat. Und jetzt dreht das Ding, das die Welt ist, sich wie eine Spindel und gebärt Sterne in Ewigkeit, denn da die Zeit keinen Anfang hat, hat sie auch kein Ende.

«Kein Ende», wiederholt er und stockt. Er hat bemerkt, dass er etwas Unklares gesagt hat. «Kein Ende», sagt er leise, «kein Ende.»

Claus Ulenspiegel stammt von droben her, aus Mölln im lutherischen Norden. Schon nicht mehr ganz jung, ist er vor einem Jahrzehnt in die Gegend gekommen, und weil er nicht von hier war, hat er nur Müllersknecht sein können. Der Müllersstand ist nicht ehrlos wie der des Abdeckers, der die verwesten Tiere beseitigt, oder der des Nachtwächters oder gar des Henkers, aber auch nicht besser als jener der Taglöhner und weit schlechter als der Stand der Handwerker in ihren Zünften oder der der Bauern, die einem wie ihm nicht einmal die Hand gegeben hätten. Aber dann hat ihn die Tochter des Müllers geheiratet, und bald ist der Müller gestorben, und jetzt ist er selbst Müller. Nebenbei heilt er die Bauern, die ihm immer noch nicht die Hand reichen, denn was sich nicht gehört, gehört sich nicht; aber wenn sie Schmerzen

haben, kommen sie zu ihm.

Kein Ende. Claus kann nicht weitersprechen, es beschäftigt ihn zu sehr. Wie soll Zeit aufhören! Andererseits ... Er reibt sich den Kopf. Sie muss ja auch begonnen haben. Denn wenn sie nie begonnen hätte, wie wäre man bis zu diesem Moment gelangt? Er blickt um sich. Unendlich viel Zeit kann nicht vorbei sein. Also muss sie eben doch angefangen haben. Aber vorher? Ein Vorher vor der Zeit? Schwindlig wird einem. So wie in den Bergen, wenn man in eine Klamm schaut.

Einmal, erzählt er jetzt, habe er in so eine gesehen, in der Schweiz, da habe ein Senner ihn zum Almauftrieb mitgenommen. Die Kühe hätten große Glocken getragen, und der Name des Senners sei Ruedi gewesen. Claus stutzt, dann erinnert er sich, was er eigentlich hat sagen wollen. Da habe er also in die Klamm geschaut, und die sei so tief gewesen, dass man den Grund nicht habe sehen können. Da habe er den Senner, der übrigens Ruedi geheißen habe - ein seltsamer Name -, also da habe er den Ruedi gefragt: «Wie tief ist die denn?» Und der Ruedi habe ihm so schleppend, als hätte ihn die Müdigkeit ergriffen, geantwortet: «Die hat keinen Boden!»

Claus seufzt. Die Löffel schaben in der Stille. Erst habe er gedacht, erzählt er weiter, das sei nicht möglich und der Senner sei ein Lügner. Dann habe er sich gefragt, ob die Schlucht vielleicht der Eingang zur Hölle sei. Aber plötzlich sei ihm klargeworden, dass es darauf gar nicht ankomme: Auch wenn die Schlucht einen Grund habe, so müsse man doch bloß nach oben blicken, um eine Schlucht ohne Grund zu sehen. Mit

schwerer Hand kratzt er sich am Kopf. Eine Schlucht, murmelt er, die einfach immer weitergehe, weiter und weiter, immer noch weiter, in die also alle Dinge der Welt passten, ohne auch nur den kleinsten Teil ihrer Tiefe zu füllen, eine Tiefe, an der alles zunichte werde ... Er isst einen Löffel Grütze. Ganz übel werde einem da, so wie einem ja auch marod zumute sei, sobald man sich klarmache, dass die Zahlen nie endeten! Dass man zu jeder Zahl noch eine hinzutun könne, als gäbe es keinen Gott, um solchem Treiben Einhalt zu gebieten. Immer noch eine! Zählen ohne Ende, Tiefe ohne Boden, Zeit vor der Zeit. Claus schüttelt den Kopf. Und wenn -

Da schreit Sepp auf. Er presst die Hände an den Mund. Alle sehen ihn an, verdutzt, aber vor allem froh über die Unterbrechung.

Sepp spuckt ein paar braune Kiesel aus, die genauso aussehen wie die Teigklumpen in der Grütze. Es ist nicht leicht gewesen, sie unbemerkt in seine Schüssel zu schmuggeln. Für so etwas muss man auf den richtigen Moment warten, und wenn nötig, muss man selbst Ablenkung schaffen: Deshalb hat der Junge vorhin Rosa, die Magd, gegen das Schienbein getreten, und als sie aufgeschrien und ihm gesagt hat, dass er ein Rattenvieh, und er ihr gesagt hat, dass sie eine hässliche Kuh sei, und sie ihm wieder gesagt hat, dass er dreckiger sei als der Dreck, und seine Mutter ihnen beiden gesagt hat, dass sie sofort ruhig sein sollten, in Gottes Namen, oder es gebe heute kein Essen, hat er sich schnell vorgebeugt und genau in dem Moment, da alle auf Agneta geblickt haben, die Steine in

Sepps Schüssel plumpsen lassen. Der richtige Augenblick ist schnell versäumt, aber wenn man aufmerksam ist, kann man ihn spüren. Dann könnte ein Einhorn durchs Zimmer laufen, ohne dass die anderen es bemerken würden.

Sepp tastet mit dem Finger im Mund, spuckt einen Zahn auf den Tisch, hebt den Kopf und sieht den Jungen an.

Das ist nicht gut. Der Junge war sich ziemlich sicher, dass Sepp es nicht durchschauen würde, aber der ist offenbar doch nicht so blöd.

Da springt der Junge auf und rennt zur Tür. Leider ist Sepp nicht nur groß, sondern auch schnell, und er bekommt ihn zu fassen. Der Junge will sich losreißen, es gelingt nicht, Sepp holt aus und schlägt ihm die Faust ins Gesicht. Der Schlag saugt alle anderen Geräusche auf.

Er blinzelt. Agneta ist aufgesprungen, die Magd lacht, sie mag es, wenn geprügelt wird. Claus sitzt mit gerunzelter Stirn da, gefangen in seinen Gedanken. Die zwei anderen Knechte reißen neugierig die Augen auf. Der Junge hört nichts, der Raum dreht sich, die Zimmerdecke ist unter ihm, Sepp hat ihn sich über die Schulter geworfen wie einen Mehlsack. Dann trägt er ihn hinaus, und der Junge sieht Gras über sich, drunten wölbt sich der Himmel, durchzogen von den Wolkenfasern des Abends. Jetzt hört er wieder etwas: Ein hoher Ton hängt zitternd in der Luft.

Sepp hält ihn an den Oberarmen und starrt ihm aus nächster Nähe ins Gesicht. Der Junge kann das Rot im Bart des Knechts sehen. Dort, wo der Zahn fehlt, blutet es. Er könnte dem

Knecht mit aller Kraft die Faust ins Gesicht schlagen. Sepp würde ihn wohl fallen lassen, und wenn er schnell wieder auf die Füße käme, könnte er Abstand gewinnen und den Wald erreichen.

Aber wozu? Sie leben in derselben Mühle. Wenn Sepp ihn heute nicht erwischt, so erwischt er ihn morgen, und wenn nicht morgen, dann übermorgen. Besser, man bringt es jetzt hinter sich, da alle zusehen. Vor den Augen der anderen wird Sepp ihn wahrscheinlich nicht umbringen.

Sie sind alle aus dem Haus gekommen: Rosa steht auf den Zehenspitzen, um besser sehen zu können, sie lacht noch immer, und auch die zwei Knechte neben ihr lachen. Agneta ruft etwas; der Junge sieht sie den Mund aufreißen und die Hände schwingen, aber hören kann er sie nicht. Neben ihr blickt Claus immer noch drein, als dächte er an etwas anderes.