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Jetzt aber, da sie dem Mann mit dem großen Kiefer gegenüberstand, begriff sie verwirrt, dass es tatsächlich glücken konnte: der Kurfürstentitel für ihren Sohn. Ich war dir keine gute Mutter, dachte sie, und geliebt habe ich dich wohl kaum so, wie es sich gehört hätte, aber eines habe ich für dich getan: Ich bin nicht nach England zurück, ich bin in dem kleinen Haus geblieben und habe vorgetäuscht, es wäre ein Königshof im Exil, und alle Männer habe ich abgewiesen nach dem Tod deines armen Vaters, obwohl mich viele wollten, auch ganz junge, denn ich war eine Legende und schön dazu; aber ich wusste, dass es keinen Skandal geben durfte, um unseres Anspruchs willen, und habe es keinen Moment vergessen.

«Wir zählen auf Euch», sagte sie. Hatte sie den richtigen Ton getroffen, oder war das zu feierlich? Aber er hatte solch einen großen Kiefer, und seine Brauen waren so buschig, und als er seinen Namen genannt hatte, waren ihm fast die Tränen gekommen. Für ihn war der gehobene Ton wohl angemessen. «Wir zählen auf Brandenburg.»

Er machte eine Verbeugung. «So zählt auf Brandenburg.»

Seine Frau betrachtete Liz mit eisigem Blick. In der Hoffnung, dass das Gespräch jetzt vorbei war, sah Liz sich nach Wolkenstein um, aber der war nicht mehr zu sehen; und jetzt waren auch die Brandenburger gesetzten Schrittes weitergegangen.

Sie stand allein. Die Musiker begannen von neuem. Liz zählte die Taktschläge und erkannte den neuesten Modetanz, ein Menuett. Zwei Reihen formten sich, die Herren hier, drüben die Damen. Die Reihen entfernten sich voneinander, dann gingen sie aufeinander zu, Partner fassten einander an behandschuhten Händen. Nach einer Drehung traten sie auseinander, die Reihen entfernten sich wieder, und alles wiederholte sich, während die Musik das Thema von vorhin leicht und singend variierte: auseinander, zusammen, Drehung, auseinander. In den Tönen schwang Sehnsucht, die man spürte, ohne zu begreifen, wem oder was sie galt. Dort schritt der französische Botschafter neben Graf Oxenstierna; die beiden sahen einander nicht an, aber sie bewegten sich, getragen vom Takt, im Gleichschritt. Dort war Contarini, dessen Dame sehr jung war, eine berückend schlanke

Schönheit, und dort war Wolkenstein, der die Augen halb geschlossen hatte, sich ganz der Musik überließ und offenbar nicht mehr an sie dachte.

Sie bedauerte, dass sie nicht mitmachen konnte. Sie hatte immer gern getanzt, aber alles, was sie noch hatte, war ihr Stand, und der war zu hoch, um sich in eine der Reihen einzugliedern. Außerdem konnte sie sich schlecht bewegen, ihr Pelzmantel war zu dick für einen von so vielen Fackeln aufgeheizten Saal, aber sie konnte ihn auch nicht gut ablegen, weil das Kleid, das sie darunter trug, zu einfach war. Von ihrer alten Garderobe war nur noch dieser Hermelin übrig, alles andere war versetzt und verkauft. Sie hatte sich immer gefragt, wozu sie ihn behalten hatte. Jetzt wusste sie es.

Die Reihen kamen wieder zusammen, aber auf einmal gab es Unordnung. Jemand stand in der Mitte des Saales und machte offenbar keine Miene, den Tanzenden aus dem Weg zu gehen. An den Rändern bewegten sie sich weiter zur Musik - dort war Salvius, da drüben die Frau des Brandenburgers -, doch in der Mitte konnten sich die Reihen nicht mehr schließen; Tänzer prallten gegeneinander, Tänzer kamen aus dem Gleichgewicht, alle versuchten, an dem Stehenden vorbeizukommen. Dürr war er, die Wangen hohl, das Kinn sehr spitz, auf der Stirn eine Narbe. Er trug ein geschecktes Wams und Pluderhosen und feine Lederschuhe. Auf seinem Kopf war eine bunte Schellenkappe. Jetzt begann er auch noch zu jonglieren: Stählerne Dinge flogen in die Luft, erst zwei, dann drei, dann vier, dann fünf.

Es brauchte einen Moment, aber dann begriffen es alle zugleich: Das waren Klingen! Menschen wichen zurück, Männer duckten sich, Damen hielten sich schützend die Hände vors Gesicht. Aber die gekrümmten Dolche kehrten immer in seine Hände zurück, immer richtig herum, immer mit dem Griff nach unten, während er nun auch noch zu tanzen anfing - in kleinen Schritten, vor und zurück, erst langsam, dann schneller, was wiederum die Musik veränderte, denn nicht er folgte ihr, sondern sie ihm. Kein anderer tanzte mehr, sie hatten Platz gemacht, um besser zu sehen, wie er um sich selbst wirbelte, während die Klingen blitzend immer höher flogen. Das war nun kein bedächtiger, eleganter Tanz mehr, sondern ein wildes Dahinjagen nach einem atemlosen galoppierenden Takt, der immer schneller wurde.

Dann begann er zu singen. Seine Stimme war hoch und blechern, aber er traf die Töne und kam nicht außer Atem. Seine Worte verstand man nicht. Es war wohl eine Sprache, die er erfunden hatte. Und dennoch war einem, als wüsste man, worum es ging; man verstand es, obgleich man es nicht hätte in Worte fassen können.

Nun waren weniger Dolche in der Luft. Nur vier noch, nur noch drei, einer nach dem anderen steckte in seinem Gürtel.

Da ging ein Schrei durch den Saal. Der grüne Rock einer Dame, es war die Gemahlin Contarinis, war plötzlich rot gesprenkelt. Offenbar war dem Mann eine der Klingen über die Handfläche gefahren, aber in seinem Gesicht sah man nichts davon - lachend schleuderte er den letzten Dolch so hoch, dass

er zwischen den Armen eines Lusters hindurchflog, ohne einen Kristall zu berühren, und im Herabwirbeln fing er ihn und steckte ihn weg. Die Musik verstummte. Er verbeugte sich.

Applaus brach los. «Tyll!», rief jemand, «Bravo, Tyll!», ein anderer. «Bravo! Bravo!»

Die Musiker begannen wieder zu spielen. Liz war schwindlig geworden. Es war so heiß im Saal, der vielen Kerzen wegen, und ihr Pelz war viel zu dick. Rechts in der Eingangshalle stand eine Tür offen, dahinter führte eine Wendeltreppe empor. Sie zögerte, dann ging sie hinauf.

Die Treppe war so steil, dass sie zweimal keuchend stehen blieb. Sie stützte sich an die Mauer. Kurz wurde ihr schwarz vor Augen, ihre Knie wurden schwach, und sie meinte, sie würde zu Boden fallen. Dann kam sie wieder zu Kräften, raffte sich auf und stieg weiter. Endlich erreichte sie einen kleinen Balkon.

Sie schlug ihre Kapuze zurück und lehnte sich ans steinerne Geländer. Unten lag der Hauptplatz, rechts von ihr ragten die Türme des Doms in den Himmel. Die Sonne musste eben untergegangen sein. Feiner Nieselregen füllte immer noch die Luft.

Drunten in der Dämmerung überquerte ein Mann den Platz. Es war Lamberg. Er ging vorgebeugt, mit kleinen, schleppenden Schritten, auf seine Residenz zu. Der Purpurmantel flappte ihm träge um die Schultern. Einen Moment stand er eingesunken vor der Tür. Er schien nachzudenken. Dann ging er hinein.

Sie schloss die Augen. Die kalte Luft tat ihr gut.

«Wie geht es meinem Esel?», fragte sie.

«Er schreibt ein Buch. Und dir, kleine Liz?»

Sie öffnete die Augen. Er stand neben ihr, gestützt aufs Geländer. Seine Hand war mit einem Tuch verbunden.

«Hast dich gut gehalten», sagte er. «Alt bist du geworden, aber blöd noch nicht, und machst sogar noch was her.»

«Du auch. Nur die Kappe steht dir nicht.»

Er hob die unverletzte Hand und spielte an den Glöckchen. «Der Kaiser will, dass ich sie trage, weil man mich in einer Broschüre, die er mag, so gezeichnet hat. Ich hab dich nach Wien holen lassen, sagt er zu mir, jetzt sollst du auch aussehen, wie man dich kennt.»

Sie zeigte fragend auf seine umwickelte Hand.

«Vor hohen Herren greif ich immer mal daneben. Dann geben sie mehr Geld.»

«Wie ist der Kaiser so?»

«Wie alle. Nachts schläft er, und er hat es gern, wenn man nett zu ihm ist.»

«Und wo ist Nele?»

Er schwieg einen Augenblick, als müsste er sich erinnern, von wem sie sprach. «Die hat geheiratet», sagte er dann. «Lang her.»

«Der Frieden kommt, Tyll. Ich kehre zurück nach Hause. Übers Meer, nach England. Willst du mitkommen? Ich gebe dir ein warmes Zimmer, und Hunger sollst du auch nicht leiden. Auch wenn du einmal nicht mehr auftreten kannst.»

Er sagte nichts. Unter die Regentropfen hatten sich so viele Flocken gemischt, dass kein Zweifel mehr bestand - es schneite.