Vier Stunden später war sie nahe daran, auf den Rat der Ärzte zu hören, auf die Sanitätsstation zurückzukehren und sich für die nächsten vierundzwanzig Stunden in Tiefschlaf versetzen zu lassen. Sie hatte eine Folge endloser Debatten, Etatbesprechungen, Abstimmungen und sich im Kreis drehender Diskussionen hinter sich, und ein Blick auf den Terminplan zeigte ihr, daß sie nicht einmal die Hälfte aller Punkte abgehandelt hatten. Dabei konnte Charity sich beim besten Willen nicht daran erinnern, was sie nun alles im Einzelnen besprochen hatten.
Meistens war es um so wichtige Fragen gegangen wie die, ob die neuen Fertighäuser, die in den unterirdischen Fabriken der Basis produziert wurden, nun aus blaßbeigem oder lindgrünem Kunststoff bestehen sollten, oder ob die neu eingeführte allgemeine Schulpflicht prinzipiell für alle Kinder im Lande galt oder nur für die registrierten Einwohner der neugegründeten Städte. Jede dieser Fragen war für sich gesehen wichtig, aber Charity fragte sich, was sie damit zu tun hatte.
Die Antwort gab sie sich gleich selbst: Sie hatte es so gewollt. Es war ihre persönliche Entscheidung gewesen, den Vorsitz des Rates zu übernehmen, und als Vorsitzende mußte sie nun einmal bei jeder Ratssitzung anwesend sein.
Das wirst du ändern, sagte sie sich. Die vielen Aufgaben, die sie zu bewältigen hatten, waren in den letzten Jahren regelrecht explodiert. Eine der nächsten Entscheidungen Charitys würde darin bestehen, mindestens ein Dutzend weitere Gremien zu bilden, um den Rat zu entlasten.
Aber wahrscheinlich, dachte sie sarkastisch, wird dieses Vorhaben schlichtweg daran scheitern, daß wir vorher monatelang über die Zusammensetzung dieser Gremien diskutierten müssen.
Bürokraten! Von allen untergegangenen Errungenschaften der alten Welt hatte sich die Bürokratie am schnellsten und umfassendsten erholt. Wie Charity sie haßte!
»Kommen wir nun zum nächsten Punkt«, sagte Hartmann mit leicht erhobener Stimme und auf eine Art, die Charity aufhorchen ließ. Ihr fiel auf, daß er ihr einen raschen, irgendwie nervösen Blick zuwarf, ehe er weitersprach. Wieso hatte sie das Gefühl, daß ihr das, was er jetzt sagen würde, nicht gefiel?
»Die von den Gouverneuren Seybert und Drasko beantragte Kürzung des Militäretats um fünfundzwanzig Prozent.«
Charity richtete sich kerzengerade auf. »Wie?«
Hartmann hob in einer vermutlich prophylaktisch-vorsorglichen Geste die Hände.
»Bisher ist es nur ein Antrag, Captain Laird, der noch nicht einmal zur Abstimmung steht.«
Daß er ihren militärischen Rang erwähnte - der ohnehin vollkommen bedeutungslos war - warnte Charity. Und es sagte ihr mehr über das, was kommen würde, als Hartmann mit einem zehnminütigen Dialog gekonnt hätte.
»Der aber längst überfällig ist«, fügte Seybert hinzu. Drasko sagte nichts, nickte aber zustimmend und gab sich alle Mühe, Charity mit Blicken regelrecht aufzuspießen. Noch während sie sich betont langsam zu den beiden umwandte, spürte sie, daß ihr eine äußerst harte Auseinandersetzung bevorstand.
»Würden Sie das bitte genauer erklären, Gouverneur Seybert?« fragte sie betont freundlich, aber auch mit einer spröden Härte in der Stimme, die jeden, der sie auch nur halbwegs kannte, gewarnt hätte. Unglücklicherweise kannte Seybert sie nicht besonders gut.
Drasko hingegen schon. Vielleicht war das der Grund dafür, daß er sich so auffallend zurückhielt und es Seybert überließ, sich eine blutige Nase zu holen.
»Sehr gern«, antwortete Seybert. In ihren Augen blitzte es kampflustig auf, während sie einen prall gefüllten Kunststoffhefter auf die Tischplatte warf. »Ich habe hier - in Stichworten, und auf das Notwendigste beschränkt - Kopien der Material- und Personalanforderungen, die allein meinem Gouverneur in den letzten sechs Monaten übermittelt wurden.«
Charity machte keine Anstalten, nach dem Hefter zu greifen. Sie kannte alle Papiere, die sich darin befanden. Auf den meisten stand vermutlich ihre eigene Unterschrift.
»Worauf wollen Sie hinaus, Gouverneur?« fragte sie.
»Daß das...« Seybert suchte einen Moment sichtlich nach Worten, »... einfach zu viel ist«, sagte sie schließlich. »Captain Laird, ich verstehe ja, daß Sie als Soldat vor allem an das Militär denken, und vermutlich haben Sie gute Gründe dafür, aber -«
»Ich habe nur einen einzigen Grund«, fiel Charity ihr ins Wort. »Es hat fünf Buchstaben, sechs Beine und vermutlich zweitausend Milliarden Krieger, die nur darauf warten, über uns herzufallen.«
In Seyberts Augen blitzte es kampflustig auf, aber sie beherrschte sich.
Charity vermutete, daß sie sich ausführlich auf diesen Moment vorbereitet hatte - ganz anders als sie.
»Sie reden von Moron«, sagte Seybert, in einem verständnisvoll-herablassenden Tonfall, der Charitys Verwirrung zu jähem Zorn werden ließ. »Ich kann Sie ja gut verstehen, aber -«
»Nein, Gouverneur, ich fürchte, das können Sie nicht«, unterbrach Charity. Sie sah zuerst Seybert, dann Drasko und schließlich der Reihe nach - und schneller - alle anderen Anwesenden an. Hartmann sah besorgt aus, während Skudder versuchte, Charity einen warnenden Blick zuzuwerfen. Auf den Gesichtern der meisten anderen jedoch war eher eine Mischung aus Ablehnung und Neugier zu lesen, und Charity erkannte, daß außer Skudder und ihr alle hier auf diesen Moment gewartet hatten.
Offensichtlich hatten Seybert und Drasko diesen Vorstoß nicht nur genau geplant, sondern auch mit dem meisten Anwesenden abgesprochen. War sie dabei, in eine Falle zu tappen?
Trotzdem, im Grunde wider besseren Wissens, fuhr sie fort: »Mit Verlaub, niemand in diesem Raum kann das. Sie haben nicht erlebt, wozu diese Geschöpfe fähig sind.«
»Captain Laird!« Drasko machte eine entschlossene Geste mit der linken Hand. »Hier in diesem Raum ist niemand, der nicht unter der Herrschaft Morons geboren und aufgewachsen wäre. Jeder von uns hat Freunde oder Familienangehörige an diese Bestien verloren. Und wir alle haben gegen sie gekämpft, auf die eine oder andere Weise.«
»Aber keiner von Ihnen war dabei, als sie gekommen sind!« widersprach Charity heftig. »Ich schon! Ich war dabei, als sie kamen! Allein die Armee der Vereinigten Staaten war damals zehnmal schlagkräftiger als alles, was wir heute aufbieten können. Wissen Sie, was es uns genutzt hat? Nichts! Sie haben uns mit einem einzigen Schlag erledigt.«
»Wir alle kennen diese alten Geschichten, Captain Laird«, sagte Seybert sanft. Irgend etwas in ihrem Blick warnte Charity. Sie war dabei, in eine Falle zu laufen.
»Sind Sie scharf darauf, diese Katastrophe noch einmal zu erleben, Gouverneur?« fragte sie heftig. Skudders Blick wurde eindeutig verzweifelt, doch Charity konnte nicht anders. »Sie haben uns damals geschlagen, weil wir nicht vorbereitet waren.«
»Und Sie glauben, wir wären es heute?« fragte Drasko. »Mit einer Armee, die nicht einmal ein Zehntel ihrer damaligen Schlagkraft hat?«
»Wir waren viel zu sehr damit beschäftigt, uns gegenseitig umzubringen«, antwortete Charity. »Wir haben mit allem gerechnet, nur nicht mit dem Überraschungsmoment. Noch einmal wird ihnen das nicht gelingen. Wenn sie wiederkommen, werden wir diesmal vorbereitet sein.«
»Woher wollen Sie wissen, daß sie wiederkommen?« fragte Seybert.
»Woher wollen Sie wissen, daß das nicht geschieht?«
»Es spricht nichts dafür«, antwortete Seybert ruhig. »Nicht wenige unsere Wissenschaftler sind der Meinung, daß sie es gar nicht können. Nach allem, was wir wissen, ist das Transmitternetz der Moroni zusammengebrochen. Selbst wenn sie es wieder einschalten können, werden sie wahrscheinlich für sehr, sehr viele Jahre damit beschäftigt sein, vor ihrer eigenen Haustür aufzuräumen.«