Als Jugendliche waren Alma und ihr Bruder, Knuppeglas, Salm, Hermann und ich oft in der Gegend umhergestreift, am Benden, im Kalksteinbruch in den Eishöhlen, in den Stollen der stillgelegten Bergwerke, in Erdunterständen und Bunkern aus den letzten Kriegen. Einmal hockten wir auf modrigem Laub in einem Bunker. Alma hatte ihren Pullover ausgezogen. Der Lichtstrahl einer Taschenlampe zeigte auf ihre Knie, tastete sich zwischen ihren Schenkeln hinauf. Salm hatte Almas Bruder Geld gegeben, damit sie sich vor uns auszog. Salm wollte sie gerade berühren. Plötzlich steckte der Bruder die Taschenlampe in seinen Mund. Sie leuchtete durch seine aufgeblähten Wangen, er schaltete sie mehrmals ein und aus. Hermann kroch nach draußen und lief weg. Der Bruder sagte, wir sollten auch verschwinden, dann zeigte der Lichtstrahl auf Salm, der mit heruntergezogener Hose und erigiertem Glied dastand.
«Los, Herr Graf, raus hier, verschwinde», lachte Almas Bruder. Salm kroch raus, stand im Schützengraben, machte seine Hose zu, klopfte den Schmutz von den Hosenbeinen und steckte das Halstuch, das er immer trug, in seinen Hemdkragen.
Salm besuchte ein Internat und kam nur in den Ferien nach Hause, damals waren gerade Herbstferien, Blätter schneiten auf den Waldboden. Wir liefen durch Schützengräben, den Hang bis zum Flussufer hinunter, wo Hermann weinend saß. Mosaikjungfern und bunt schillernde Prachtlibellen schwebten über seichtem schlammigen Uferwasser, sie machten ruckartige Bewegungen, wurden für einen Moment unsichtbar. Alma war mit ihrem Bruder in dem Erdunterstand geblieben. Als sie abends nach Hause kam, schloss sie sich in ihrem Zimmer ein und ließ weder mich noch Hermann zu sich.
Knuppeglas schimpfte an der Theke weiter über Hermann, geriet schließlich so in Rage, dass er schnaubend durch die Küche, in der wir am Tisch saßen, rannte, ohne dass er von uns Notiz nahm, und zu Hermann hinauflief. Wir hörten ihn die Treppe hinaufpoltern und mit den Fäusten gegen Hermanns Tür trommeln. Er schrie, dass Hermann endlich rauskommen solle.
«Spinnt der denn total, was nimmt der sich denn raus!», empörte sich meine ältere Schwester. Knuppeglas kam zurück, ohne dass mein Bruder geantwortet oder irgendwie reagiert hätte.
«Vielleicht is er ja wirklich nicht mehr in seinem Zimmer», sagte Alma, als sie aus der Gaststätte kam.
«Wir haben doch unsere Zeit auch nicht gestohlen», zischelte Renate, «was machen wir dann überhaupt noch hier?»
«Ausgerechnet jetzt muss der sich so anstellen, wir sind doch auf ihn angewiesen», stellte Salm fest. Salm gehörten die Fischteiche, sie waren das Einzige, was von den Ländereien seiner Familie noch übrig geblieben war. Früher hatte den von Salms fast das ganze Land in dieser Gegend gehört. Doch als sein Vater gestorben war, stellte sich heraus, dass er nur Spielschulden hinterlassen hatte, er hatte Schloss und Ländereien am Roulettetisch verloren. Der alte Salm war oft wochenlang verschwunden gewesen, tauchte dann plötzlich wieder auf, saß bis spät in der Nacht bei uns an der Theke, hielt großspurige Reden und hatte am Ende nicht einmal genug Geld dabei, um seine Zeche zu zahlen. Nach seinem Tod besaßen die von Salms nur noch lebenslanges Wohnrecht in einem kleinen Nebengebäude des Schlosses, das jetzt dem Landschaftsverband gehört.
Während der letzten Jahre hatte Gregor in der Stadt gelebt, kaum Kontakt zu seiner Familie gehabt, der alte Salm hatte immer gesagt, dass sein Sohn zwar studiere, aber nichts dabei herauskommen werde. Nach dem Tod seines Vaters kam Gregor zurück, um sein Erbe anzutreten. Reiher hatten alle Fische gefressen, und die Teiche waren versandet. Hermann und Knuppeglas halfen Salm damals beim Aufbau der Fischzucht. Sie baggerten die Teiche aus, desinfizierten den Grund mit Kalk, erneuerten morsche Dämme, bauten im Jahr darauf ein Bruthaus und begannen mit der Forellenzucht.
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Ein Schwarm ist immer von Unruhe getrieben. Vielleicht ist das seine Rettung. Zuerst sind es winzige, fast durchsichtige, lichtscheue, herumwimmelnde Wesen, später ein einziges Wesen, ein einziger großer Fisch, dann wieder dunkel gefärbte, fingerlange Fischchen.
11
Am Ufer stehen Schwarzerlen, das Wasser ist knöcheltief und hüpft glitzernd über Steine. Angler kommen vorbei, laufen zur Eisenbahnbrücke hinunter, klettern auf die Brücke und gehen über den Steg, der neben den Gleisen über den Fluss führt, dann zu den Wiesen beim Campingplatz hinüber, wo sich an der Zufahrt zum Zeltplatz die Campingschenke befindet, ein kleiner flacher Holzbau mit einer Veranda, drinnen sind ein Kiosk, eine Toilette und Duschen. Ich wate aus dem Fluss, setze mich ans Ufer und trinke Schnaps, den ich mir heute Morgen aus dem Keller geholt habe. Nach einigen Schlucken ist es, als würde ich auf dem Wasser treiben, ein Partikel, das von der Strömung mitgenommen wird.
Ich muss daran denken, wie ich gestern gemeinsam mit den Schwestern zu Hermann hinaufgegangen bin. Wir wollten nicht den ganzen Tag herumsitzen und nur abwarten, ob sich etwas tut. Die jüngere Schwester war ungeduldig, sie hatte sich nur für einen Tag Urlaub genommen und ihrem Chef versichert, am nächsten Tag pünktlich wieder im Dienst zu sein. Wir gingen am Abstellraum vorbei, den sich Hermann vor einigen Jahren als Büro eingerichtet hatte. Auf dem Tisch vorm Fenster standen ein Computer, Ordner mit Lieferscheinen und Rechnungen, daneben ein Stapel Zigarrenkisten, in denen Hermann Köderfliegen, Haken und Angelschnüre aufbewahrte. Vom Büroraum führt eine steile Treppe zum Bierkeller hinab, neben der Kellertreppe standen auf einem Absatz rostige Blechbüchsen, Gläser mit Mehl- und Tauwürmern, Holz- und Strauchmaden, Ohrwürmer, die kühl in Sägemehl lagerten, Flaschen mit getrocknetem Gras, mit gefangenen Heuschrecken, Mai- und Steinfliegen, Dosen mit einem Stück Fleisch oder Leber, auf dem Vater die Maden der blauen und grünen Schmeißfliege gezüchtet hatte. Die Maden hatten tropfenförmige, elfenbeinfarbene Körper, winzige, dunkle, vorstehende Äuglein. Vater hatte die Maden lebend auf ein geschärftes Goldhäkchen gezogen, sehr vorsichtig, damit ihr Körper nicht aufplatzte. Als Vater unmäßig zu trinken begann und krank geworden war, hielt er sich fast nur noch im Keller auf und experimentierte mit seinen Ködern, damals erschien er uns wie ein Gespenst. Von Zeit zu Zeit kroch er auf allen Vieren betrunken die Kellertreppe hinauf und wollte raus. Doch Mutter hatte die Tür vorsorglich verschlossen, wollte Vater nicht aus dem Keller lassen, weil er sonst getobt, das Haus demoliert und sie geschlagen hätte. Vater saß dann wimmernd auf den Stufen vor verschlossener Kellertür, bis er schließlich die Treppe wieder hinabpolterte. Nach einiger Zeit kroch er von dort wieder in den Gewölbekeller zurück, zu seinen Dosen, Flaschen, Ködern, Büchern und dem Fluss, der an der dicken Bruchsteinmauer vorbeiströmte. Zuletzt glaubte Vater, wenn er sein Ohr an den feuchten Mauerstein legte, ein Flüstern im Rauschen zu hören, sprach in seinem Delirium mit Fischen und verstorbenen Menschen, deren Stimmen er im Rauschen zu hören meinte.
Als ich hinter den Schwestern an der Kellertür vorbeiging, berührte Renate die Hand der älteren Schwester. In der Kindheit waren beide unzertrennlich gewesen und liefen oft Hand in Hand herum. Einmal, als sie aus der Schule kamen, war Alma mit Vater unten im Keller. Sie hörten, im Flur stehend, Almas und Vaters Stimmen. Seit diesem Tag, nach diesen Minuten im Flur an der Treppe, hatte sich keine der Schwestern mehr in den Keller hinuntergewagt.