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Wir gingen durch das Treppenhaus und über den Flur zu Hermanns Zimmer. Alle drei standen wir vor seiner Tür und versuchten, mit unserem Bruder zu reden, ihn zu überzeugen, die Tür zu öffnen. Schließlich sagte Claudia, er solle endlich erwachsen werden, sich fügen, wie alle anderen auch. Aber Hermann antwortete nicht. Es war so still, wir wussten ja nicht einmal, ob Hermann überhaupt in seinem Zimmer war. Renate hatte die Idee, vom Nebenzimmer zu ihm hinüberzuschauen. Ich lehnte mich weit über die Brüstung, blickte auf Hermanns kleinen Balkon, auf dem nur Gerümpel und Plastikstühle standen, aber die Gardinen vor Hermanns Fenster waren zugezogen.

«Siehst du was, Leo?», fragte Claudia.

«Früher wären wir da einfach rübergeklettert», sagte die jüngere Schwester. Sie zog mich zurück, als ich über die Brüstung steigen wollte. «Lass, Leo, die Balkontür wird auch abgesperrt sein.»

Schließlich gingen wir durch den Flur zum Aufenthaltsraum, einem gemütlich eingerichteten großen Zimmer mit einem Sofa, Sesseln, Fernseher und einer Bar, an der sich die Gäste ihre Getränke selbst nehmen konnten. Als Kinder hatten wir oft in diesem Raum gesessen und ferngesehen.

Die jüngere Schwester blieb an die Wand gelehnt stehen und sagte, dass ihr schwindlig sei, sie wisse gar nicht, was sie hier noch mache, Hermann würde sich sowieso nicht helfen lassen, habe immer gemacht, was er wollte, und sich um niemanden geschert. Sie redete von ihrer wichtigen Arbeit, sagte, dass sie für den ganzen Einkauf in der Firma verantwortlich sei und am Abend noch einmal ins Büro müsse, um die Bestellungen zu überprüfen und sie an die Lieferanten rauszuschicken. Wenn sie das nicht täte, hätten sämtliche Filialen am nächsten Tag keine Ware. An der Wand neben ihr hing eine von Hermanns Zeichnungen, eine Groppe. Ich erinnerte mich sofort, wie wir als Kinder mit Hermann im seichten Wasser gestanden hatten; Hermann hatte vorsichtig einen Stein hochgehoben und gewartet, bis der aufgewühlte Schlamm sich gesetzt und er uns diesen urzeitlichen Fisch mit seinem dicken Kopf, den Glupschaugen und Flossen, die wie lange Ohren hinter dem Kopf standen, gezeigt hatte. Ein Fisch, der keine Schwimmblase hatte und, wie ein kleiner Mensch, über den Grund des Flusses wandelte.

Die ältere Schwester redete über Alma, gab ihr die Schuld, dass Hermann so seltsam geworden sei, fügte noch hinzu, sie habe gehört, dass Alma mit einigen Gästen — auch mit Salm — Verhältnisse gehabt hätte.

«Ich will euch gar nicht sagen, was man sich noch alles über die erzählt», empörte sie sich.

«An Hermanns Stelle hätte ich die längst aus dem Haus geworfen», regte sich auch die Jüngere auf. Eigentlich hatten die Schwestern immer schon gegen Alma gewettert, besonders die Jüngere, die am längsten zu Hause gewohnt hatte und noch da war, als wir anderen das Elternhaus schon verlassen hatten.

Claudia erzählte, was sich zuletzt an den Karnevalstagen zugetragen hatte: «Für den Umzug hatten die ein Schiff gebaut, auf dem saß Hermann als große Pappfigur, eine Angel in der Hand und am Haken die Holländerin als barbusige Nixe.» Sie erzählte, dass Hermann auch beim letzten Schützenfest von Salm und Knuppeglas im Leiterwagen sitzend und völlig betrunken mit einer Pappkrone auf dem Kopf durch den Ort gezogen worden war. Er sei außerdem noch vor Kurzem, nach einer durchzechten Nacht in der Campingschenke, durch die Straßen getorkelt, habe immerzu ‹Glückseligkeit … unsere Glückseligkeit› gegrölt, Verse aus einem Kirchenlied, schließlich habe er sich mitten auf die Fahrbahn gelegt, die Arme ausgebreitet und zu weinen begonnen. Er sei nicht mehr dazu zu bewegen gewesen aufzustehen. Claudia wurde laut: «Es musste ja irgendwann so kommen, man muss sich ja schämen, solch einen Bruder zu haben.» Sie verstummte, als ein Brückenarbeiter hereinkam. Der Arbeiter ging zur Kühltheke, holte ein Mineralwasser heraus, trank es in einem Zug aus und ging dann zum Frühstück runter in die Gaststätte.

Die jüngere Schwester blickte aus dem Fenster, auf den heruntergekommenen Hof von Reese am anderen Ufer. Ein schmaler Pfad führte am Bruchsteingemäuer des Stalls vorbei. In der Uferböschung wuchsen niedrige Sträucher, Weiden, Spring- und Pfeilkraut und Binsen, ein Reiher stakte vorsichtig, ein Bein vor das andere setzend, durch das seichte Uferwasser, blieb dann reglos stehen und starrte auf eine Stelle im Wasser. Jemand im Flur trat auf eine knarrende Diele, ich erinnerte mich, wie Mutter immer spätabends mit der Kasse, in der sich die spärlichen Tageseinnahmen befanden, müde die Treppe hochstieg, die Teppichstangen quietschten, fremde Stimmen aus den Gästezimmern, Liebhaber, die Mutter nach oben begleiteten, erinnerte mich an Angler, die Aale gefangen hatten und in einem Eimer in den Saal stellten und dass dann die Aale am nächsten Morgen spurlos verschwunden waren. Wir mussten den Eimer mit den Aalen suchen, weil sie für die Angelgäste zubereitet werden sollten. Das Wasser in der Küche kochte schon, Aale wurden lebend in den Topf geworfen, damit ihre Haut sich besser abziehen ließ, zudem schmeckte ihr Fleisch dann besser. Wir suchten im Tanzsaal, das Parkett roch nach Bohnerwachs, wir krochen unter die Tische, sahen hinter die Heizungskörper, unter die Bühne, wo sich früher tingelnde Schauspieler maskierten, wo alles voller Gerümpel stand und die Wände mit staubigem bunten Krepppapier verkleidet waren. Die Aale waren einfach weg, wie vom Erdboden verschwunden. Hermann erzählte uns, dass sich Aale nachts über die Wiesen schlängeln, Milch aus Zitzen schlafender Kühe saugen und den Geruch ihres Heimatflusses an ihre Nachkommen irgendwo in den Tiefen des Meeres vererben. Warum sollten Aale nicht auch andere Zauberkunststücke beherrschen, sich unsichtbar machen oder in Luft auflösen können? Wir suchten weiter: auf der Saalbühne, wo Mutters Klavier stand, an der Wand zwischen den Fenstern, wo ein Gemälde von Onkel Jakob hing; es zeigte die Stiftskirche auf dem Bergsporn, den Bahnhof, den Tunnelkopf, unseren Fluss, wie er sich als blaues Band träumend und glitzernd um den Ort schlängelte. Onkel Jakob hatte es gemalt, nachdem er aus russischer Kriegsgefangenschaft zurückgekommen war. Wochenlang saß er schweigend auf der Bühne, sah über das Dach des Anbaus auf den Fluss und begann schließlich zu malen, malte die Bilder, die er im Fluss sah, seinen Heimatort, nicht wie er in Wirklichkeit existierte, sondern so wie er in seiner Erinnerung gewesen war, als er von Sibirien bis zurück in die Eifel gewandert war, malte seine Heimat so, wie er sie sehen wollte. Kurz nachdem er das Bild beendet hatte, starb er. Mutter erbte daraufhin die Gastwirtschaft, die eigentlich ihrem älteren Bruder Jakob zugestanden hätte. In den Jahren vor Vaters Tod wurde der Saal an Veranstalter von Kaffeefahrten vermietet. Alte Leute reisten mit Bussen an, saßen an einer langen, vor der Bühne aufgebauten Tafel und hörten einem Verkäufer zu, der ihnen Kissen, Heizdecken, Teppiche oder andere Dinge aufschwatzte. Ich erinnere mich, wie ich nachmittags, als niemand in der Gaststätte war, mit Hermann unter die Stammtischbank kroch und wie wir den ganzen Tag dort ausharrten, schließlich einschliefen und erst spät am Abend wieder wach wurden. Wir trauten uns nicht mehr unter der Bank hervor. Männer stritten sich an der Theke, ich sah Bierpfützen, Schuhwerk von Bauern, Zementwerksarbeitern, Lastwagenfahrern. Glasscherben knirschten. «Ich schlag dich tot», schrie einer. Sartorius kam, um die Streithähne zu trennen. Später, als alle gegangen und die Tür der Gaststätte abgeschlossen war, sahen wir Almas Turnschuhe, hörten, wie sie das Fenster öffnete, der Lärm des Rauschen hereindrang.

Blätter schweben aufs Wasser, wo sie, sich langsam drehend, in der Strömung treiben, auch Erinnerungen und Träume treiben vorbei, es gibt keinen Unterschied zwischen unseren Vorstellungen und der Wirklichkeit, alles sinkt irgendwann auf den Grund des Flusses, in stille Erinnerung, ins Alleinsein. Vater sagte immer, dass man nur allein richtig fischen könne. Erinnern kann man sich auch nur allein, so ist der Grund und die Tiefe von allem das Alleinsein.