Eine Wasseramsel scharrt im Laub, vom Campingplatz her höre ich Stimmen. Salm und Knuppeglas sind aus ihrem Transporter gestiegen und gehen zur Schenke. Gestern haben sie den ganzen Tag Setzlinge ausgebracht, auch heute sind sie wieder damit beschäftigt, haben es aber nicht mehr so eilig, weil das Wetter besser geworden ist — ein schöner lauer Herbsttag, der durch nichts daran erinnert, was gestern geschehen ist. Ich denke wieder an unser Gespräch am gestrigen Morgen, als wir, nachdem wir nicht zu Hermann vorgedrungen waren, wieder in der Küche saßen. Alma bediente die Brückenarbeiter, wir redeten über Hermann, dachten darüber nach, was wir tun könnten. Die ältere Schwester sagte, dass Hermann immer schon etwas seltsam gewesen sei — nach seinem Unfall im Zementwerk sei es aber noch schlimmer geworden.
«Ich hab mich für ihn geschämt», sagte Claudia. «Mein Mann musste sich in seiner Schule rotzfreche Bemerkungen von den Schülern anhören … Und dann diese Holländerin, der er wie ein läufiger Hund hinterhergerannt ist. Als man die dann im Frühjahr im Fluss gefunden hat, dachten einige hier, dass Hermann was damit zu tun hätte. Ja, ja, für euch ist das alles ganz einfach, ihr lebt ja nicht hier.»
Die jüngere Schwester entgegnete: «Was ist denn so schlimm daran, wenn jemand sich in sein Zimmer einschließt und nicht mehr rauskommen will? Hermann will mit sich allein sein, eigentlich wollte er’s ja immer schon.»
Alma war in die Küche zurückgekommen, schnitt Brot, holte dann Wurstaufschnitt aus dem Kühlschrank und erzählte, während sie den Aufschnitt auf eine Platte legte, dass Hermann sich in den letzten Monaten mit Salm und Knuppeglas herumgetrieben habe, so wie früher, bevor er von zu Hause weggegangen und zur See gefahren sei. Er sei wieder oft in der Campingschenke gewesen, dort verkehrten doch nur Gesindel, Amis und Drogentypen. Alma brachte Kaffee und Tee in die Gaststätte. Zurück in der Küche, nahm sie Eier aus dem Korb, den Reese mitgebracht hatte, und machte Rühreier. Reese hält noch ein paar Hühner, sie geht jeden Tag, bevor sie zu uns kommt, in den Stall, sieht nach ihren Hühnern und sammelt die Eier ein. Alma nahm ein Ei nach dem anderen, zupfte die Flaumfedern ab, schlug die Schalen am Pfannenrand auf.
Claudia und Renate waren wieder zu Hermann hinaufgegangen. Alma sagte, dass die Schwestern all die Jahre nicht angerufen, sich weder um Hermann noch um Mutter gekümmert hätten. Claudia habe sogar, wenn sie auf dem Weg zum Markt an der Gaststätte vorbeigegangen sei, zur anderen Straßenseite gewechselt — überhaupt halte sie sich wohl für was Besseres mit ihrem Gymnasiallehrer, den niemand hier ausstehen könne. Wenn die wüsste, dass ihr Sohn hin und wieder mit Freunden zum Kickerspielen hierherkomme …
Alma eilte mit den Rühreiern in den Gastraum, kam wieder zurück, ging zum Schrank, öffnete die obere Tür, stellte sich auf die Zehenspitzen, holte die Maggiwürze heraus und brachte sie den Gästen. Währenddessen war ein Zug in den Bahnhof eingefahren. Mit einem dieser Züge war Vater Ende der Vierzigerjahre in unseren Ort gekommen. Einer seiner Bekannten hatte von unserer Gegend geschwärmt, von den klaren fischreichen Gewässern, von Maaren, in deren Tiefen armlange Aale lebten. Er hatte eine Angelausrüstung dabeigehabt, einen Rucksack, Kleider und viele Bücher. Die Fliege von Paul Maclean hakte an der Brusttasche seiner Anglerweste. Maclean war damals bereits tot gewesen, in einem kleinen Städtchen in Montana erschlagen von Männern, bei denen er Spielschulden gehabt hatte, und Norman, sein Bruder, schrieb gerade an der ersten Fassung des Romans über Paul und das Fliegenfischen. Vater war groß und schlank gewesen, ein stattlicher junger Mann, hatte Reese erzählt, der einen Hut mit kleinen bunt schillernden Eichelhäherfedern trug. Er beabsichtigte während seines Urlaubs, Forellen zu fischen, die größten Forellen, die es bei uns gab, wollte er fangen. Danach hatte er vor, noch einige Jahre zu arbeiten, genau so lange, bis er genug Geld hatte, um Reisen zu unternehmen und Bücher zu schreiben.
Als Vater zum ersten Mal die Gaststätte betrat, war ein schöner Herbstmorgen, genau wie heute, ja, er kam herein, setzte sich an die Theke, bestellte ein Bier. Er entdeckte Mutter und konnte den Blick nicht mehr von ihr lassen. Mutter saß auf einem Hocker hinter der Theke. Sie trug ein blaues Kleid mit weißen Pünktchen, hatte dickes, kastanienrotes, schulterlanges Haar und katzengrüne Augen. Vater war so fasziniert von ihr, dass er zumindest für einige Zeit seine Leidenschaft für das Fischen vergaß. Er verliebte sich sofort in Mutter, sie war um einige Jahre älter, in vielen Dingen erfahrener. Schon einige Monate später heirateten sie. Vielleicht hatte Vater insgeheim gedacht, er könnte jetzt nur noch seiner Leidenschaft, dem Fischen, nachgehen und müsste nicht mehr arbeiten. Doch die Wirklichkeit sah anders aus, er musste sich eine Arbeit suchen und etwas dazuverdienen, zuerst war er auf Montage, bis er dann eine Anstellung im Zementwerk fand. Er wurde immer unzufriedener, trank und redete davon, was er im Leben alles versäumt habe, wie groß sein Talent gewesen sei und was er alles noch machen wolle. Aber er hatte gar kein Talent, nur die Leidenschaft zum Fischen. In seiner Heimatstadt war er ein kleiner Angestellter in einer Eisenwarenhandlung gewesen, den Kopf voller Bücher und Illusionen. Mutter warf ihm später oft vor, er habe sie nur geheiratet, um nicht arbeiten zu müssen, er habe sich nur ein bequemes Leben erhofft.
Wenn Vater hinter der Theke stand, trank er mit den Gästen, prahlte und redete bedeutungsvoll, ließ alle spüren, wie dumm und ungebildet sie doch seien, zitierte aus seinen geliebten Schriften von Bakunin und Stirner und dem «Vollkommenen Angler» von Izaak Walton. Den Leuten hier sagte dies alles nichts. Betrunken schwadronierte Vater von der Eifel, einem von unzähligen großen und kleinen Flüssen durchzogenen Wasserland, den vielfältigen Fischen, einer Chronik des Ortes, die er schreiben werde, die in der Zeit beginne, als es noch keine Menschen gegeben habe, als die Eifel noch ein seichtes Meer gewesen sei, mit Seelilien, Korallenbänken und urzeitlichen Fischen. Später, nachdem sich Kontinente zu Gebirgen gefaltet hatten, Eiszeiten vergangen waren, das Meer sich zurückgezogen hatte, entstanden öde Wüstenlandstriche. In diesem heißen, trockenen Klima wurde unser Tal in Regenzeiten überschwemmt. Im Laufe von Jahrmillionen waren immer neue Welten entstanden, so auch das Tal, wie es jetzt ist, mit seinen engen bewaldeten Schluchten, durch die sich der Fluss seit Jahrhunderten seinen Weg bahnt, gespeist von klaren Bächen und Rinnsalen, die, ähnlich den Zweigen und Ästen eines Baumes, von den Hängen herab den Fluss mit Wasser versorgen. Vater sprach von der Besiedlung der Eifel durch die Kelten, die Franken, den durch die Eifel ziehenden brandschatzenden Wikingern, von römischen Villen und Kastellen, dem dunklen Mittelalter, der Zeit unter preußischer Herrschaft und den Franzosenkriegen, den Söhnen des Ortes, die mit Napoleons Armee Ägypten eroberten, die mit dem großen Feldherrn nach Russland zogen und im Schnee erfroren, vom Bau der Eisenbahnlinien, dem Weltkrieg, in dem die Eifel ein großes Schlachtfeld gewesen war. Vater erzählte von Menschen und Fischen, dem uralten Fisch Ichthys.
«Wir sind nicht mehr als winzige Schaumblasen auf einer Welle in einem flüchtigen Augenblick», pflegte er oft betrunken zu philosophieren. Hohlmeier, Mettgraf, Braden, Kronbus, Claes, Schwickrath, Delamot, Welter und wer sonst noch an der Theke stand, sie ließen ihn reden, tranken auf seine Kosten, bis sie betrunken waren, und erzählten ihm dann ihrerseits unglaubliche Lügengeschichten, die Vater gern für wahr annahm. Er notierte alles in Hefte und glaubte tatsächlich alles — obwohl er eigentlich kein dummer Mann und in gewisser Weise klug und gebildet war. Er sagte einmal, niemand könne wissen, was wirklich wahr oder falsch sei, daher sei es klüger, dasjenige zu glauben, das man glauben möchte, auch wenn es noch so fantastisch sei.