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Hermann war wie Vater, vor allem hatten sie dasselbe Verhältnis zum Fluss und zu den Fischen. Vater nahm Hermann schon als kleinen Jungen mit zum Fischen — mich beachtete er bald nicht mehr, ich war kein so gelehriger Schüler. Hermann war mehr Vaters Sohn, als es ein leiblicher je hätte sein können. Er wollte, dass Hermann das Gymnasium besuchte, und er ahnte große Begabungen in ihm. Hermann sollte all das machen, was Vater selbst gern erreicht hätte.

Mein Bruder löste tatsächlich Mathematikaufgaben schneller als seine Mitschüler, warf nur einen Blick darauf und hatte sofort die Lösung parat — doch Rechtschreibung konnte er nicht gut, er machte zu viele Fehler, so viele, dass man oft gar nicht verstand, was er geschrieben hatte. Als ich später in der Schule auf Hermanns Platz saß und meine Aufgaben nicht sogleich lösen konnte, sah der Lehrer, der auch Hermann unterrichtet hatte, mitleidig auf mich herab und fragte: «Bist du dir sicher, dass du Hermanns Bruder bist?» Hermann war zu dieser Zeit bereits auf dem Gymnasium. Aber das Lernen fiel ihm dort nicht mehr so leicht, wie wir alle angenommen hatten. Er hockte alleine in der hintersten Reihe, malte seine Fischbilder, träumte vom Angeln, schwänzte die Schule und stromerte dann am Fluss entlang. Manchmal traf er sich abends heimlich mit Alma, spazierte mit ihr zur Mariensäule, wo sie bis in die Nacht hinein saßen und redeten. Alma erzählte er damals schon, dass er keine Lust habe, all die unnützen Dinge zu lernen, dass er vieles nicht verstehe und auch nicht verstehen wolle. Vater konnte ihm noch so sehr zureden, Hermann gab sich in der Schule keine Mühe mehr, war längst zum Gespött seiner Mitschüler geworden, sodass er das Gymnasium verließ und bald wieder unsere kleine Schule besuchte.

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Groppe (Cottus gobio), ihr dicker Kopf mit breitem Maul lugt aus einer Höhle unter einem Stein hervor. Sie ist ein Geschichtenerzähler, der im Schlamm wühlt und Dinge hervorbringt, die niemand hören will, so wie Zehners nutzlos dahergeplappertes Gerede. Die Groppe hat keine Schwimmblase, bewegt sich nachts mit gespreizter Brustflosse ruckartig über den Flussgrund. Sie hat einen keulenförmigen, schuppenlosen Körper, ihr Rücken und die Flanken sind grau mit unregelmäßigen Marmorierungen und Fleckenmustern, auf dem Rücken hat sie einen kräftigen nach hinten gekrümmten Dorn, eine große gefleckte Brust- und Bauchflosse. Nur diese Hässlichkeit bewirkt, dass sie immerzu Geschichten erzählen muss.

12

Der Fluss ist eine Matrize, auf der sich alles unentzifferbar einritzt — für uns bleibt es danach verborgen —, aber ich weiß, dass es dennoch da ist, man es ahnen und davon träumen kann, vielleicht wissen die Fische es auch. Es hilft mir, dass ich im Fluss stehe und fische, es lenkt mich ab, verlangt gleichzeitig hohe Konzentration. Erinnerungen treiben auf mich zu, verschwinden wieder, und andere kommen.

Gestern Morgen rollte Reeses Wollknäuel vom Küchentisch, kam neben dem Tischbein zu liegen, die Schwester bückte sich, um das Knäuel aufzuheben. Der Wollfaden kringelte sich auf dem Boden. Reese zog am Faden, die Nadeln klickten wieder gegeneinander. Sie redete vom Kirchenchor, in dem sie als junge Frau gesungen hatte, vom Munitionsbunker im Kalvarienberg, wie ein Soldat damals kurz nach dem Krieg in die Gaststätte gestürzt war und geschrien hatte, der Bunker brenne, und Reese mit Mutter Hals über Kopf aus der Stadt geflohen war; sie hatten das alte Schwimm bad erreicht, als die Sirenen heulten, die Erde bebte, und der Kalvarienberg mit der Kapelle des Einsiedlers flog in die Luft, eine riesige Staubwolke verdunkelte das ganze Tal. Lange rieselte Staub herab, es war düster, obwohl es helllichter Tag war. Als sie nach Hause kamen, war alles zerstört und voller Staub, wie nach einem schrecklichen Bombenangriff, die Kuppe des Kalvarienberges war weggesprengt, auch die kleine Kapelle, in der vor langer, langer Zeit der Einsiedler gelebt hatte, von dem Reese behauptete, er sei der erste Arimond gewesen.

Reese erzählte von Valentin, und während ich am Fluss sitze und auf das Wasser sehe, glaube ich Mutter und Valentin in den kleinen glitzernden Wellen zu sehen, wie sie an einem Winterabend vor dem Krieg in den Borgward steigen, der sich dann auf der Höhenstraße zwischen Hallschlag und Prüm überschlägt und einen Hang hinunterfällt. Mutter liegt schwer verletzt auf dem Feld, während Valentin schreiend im Auto verbrennt. Reese hörte einen Moment auf zu stricken, blickte mich an und sagte, dass Mutter Valentin sehr geliebt habe, als sei dies eine Entschuldigung für alles. Nach Valentins Tod sei sie eine andere geworden, habe keine Gefühle mehr gehabt, auch später für ihre eigenen Kinder nicht. Kurz nach Kriegsende sei der Holzaufkäufer zum ersten Mal in die Gaststätte gekommen. Damals habe es an den Markttagen im Ort von Bauern nur so gewimmelt, die mit Pferden, Kühen, Ochsen, Schweinen und Federvieh handelten. Der Holzaufkäufer sei damals oft in die Gaststätte gekommen. Erst Jahre später, als sich das Holzgeschäft nicht mehr lohnte und die Bauern sich nicht mehr so leicht übervorteilen ließen, wechselte er die Branche, fuhr mit dem Perseus, einem elektrischen Akupunkturgerät, von Dorf zu Dorf. Er glaubte, Erkrankungen mit dem Wundergerät heilen zu können, und witterte das große Geschäft. Vielleicht ist dieser Holzaufkäufer Hermanns Vater und vielleicht auch meiner. Aber vielleicht war mein Vater auch irgendein durchreisender Vertreter oder ein amerikanischer Soldat, es war mir damals nicht wichtig gewesen, es herauszufinden, ich dachte, dass ich ganz allein für mich verantwortlich sei, und vielleicht wollte ich auch nur Hermanns richtiger Bruder bleiben.

Reese erzählte weiter, wie Hermann geboren wurde, später ich und anschließend die Schwestern.

Als wir schon nicht mehr zu Hause lebten, stritt sich Hermann oft mit Vater, wegen Dingen, die geschehen waren und sich nicht mehr ändern ließen. Schließlich lebte Hermann als Einziger von uns noch zu Hause, er ging allein fischen, wurde immer eigenbrötlerischer. Nachdem ich den Heimatort endlich verlassen hatte, interessierte mich das nicht mehr. Es war eine Zeit lang so, als gäbe es meine Familie, den Ort und die Menschen gar nicht mehr, als hätte ich sie für immer vergessen, als hätte das alles nie existiert.

Ich wate ans Ufer, setze mich auf der Böschung ins Gras und sehe auf den Fluss. Ich werfe ein Stöckchen hinein, es wird von der Randströmung erfasst, treibt auf die Mitte zu, dreht sich langsam um die eigene Achse. Ich lege mich auf die Wiese, höre das Wasser glucksend vorbeiströmen, sehe zum Himmel auf und treibe mit Hermann und Alma auf unserem Floß den Fluss hinunter. Wir hatten das Floß aus Brettern und Kanistern gebaut, die wir im Steinbruch geklaut hatten. Alma lag zwischen uns, sie gehörte uns beiden — jedenfalls glaubten wir das für eine kurze Zeit, weil wir glaubten, dass Menschen einander gehören könnten. Alma kraulte in unseren Haaren, lachte, und ihr Lachen glitzerte auf dem Wasser, in das sie kopfüber sprang und herumschwamm. Dann kletterte sie wieder auf unser Floß, setzte sich zu uns und untersuchte die Haut zwischen ihren Zehen. Ihre Haare kringelten sich von der Nässe. Ich versuche mich an die junge Alma zu erinnern, an uns, wie wir einmal gewesen waren, ich komme mir vor wie der Fisch, den ich gerade fangen will, weil ich nur ein paar schöne vergessene Momente gelebt habe.

Jetzt fährt auf der anderen Flussseite der Neunuhrzug dicht am Ufer vorbei. Winzige Insekten werden mit aufgewirbelten Blättern aufs Wasser geweht, die Fische steigen gierig danach. Vielleicht werde ich es an dieser Stelle versuchen, vielleicht fange ich hier meinen Fisch.