Damals war mir egal, was Reese sagte, der wichtigste Mensch für mich war Alma. Ich prügelte mich ihretwegen mit Hermann, ohne dass es offen zur Sprache kam. Es war leicht, Hermann zu demütigen, er ließ sich alles gefallen, nur um seine Ruhe zu haben. Obwohl ich jünger war, war ich ihm körperlich überlegen. Ich hatte damals vor nichts Angst außer vorm Alleinsein — Angst vorm Alleinsein hatte Hermann nicht, der konnte tagelang alleine sein. Wir waren in vieler Hinsicht verschieden. Hermann zog sich mit der Zeit immer mehr zurück, während ich mich herumprügelte und Gesellschaft suchte, wenn auch keine gute.
Einer der Schüler hängte seinen Parka über die Stuhllehne und krempelte die Hemdsärmel hoch. Die anderen warteten auf ihn und drehten währenddessen ungeduldig an den Kickerstangen. Ich brachte den Jungen Cola und Limonade zum Kicker. Als Hermann auf dem Gymnasium gewesen war, hatte er jeden Tag Angst, in die Schule zu gehen, nachts redete er im Traum und wachte oft verschwitzt auf. Er konnte es Vater nicht sagen, wollte ihn nicht enttäuschen.
Zehner torkelte durch die Gaststätte und die Treppe hinunter zum Pissoir. Die Pissoirtür pendelte und schrammte über die Fliesen. Er stand vermutlich unten und pinkelte gegen die gekachelte Wand, sein Lallen schallte bis zum Gastraum hoch. Der Tabaklieferant kam herein, er hatte den Zigarettenautomaten an der Wand neben dem Eingang zur Gaststätte aufgefüllt, er trank ein Bier und spielte mit seinem Handy herum, achtete nicht auf Zehners Gerede, der nun wieder an der Theke saß. Zehner redete von der Holländerin, sie habe Sommersprossen unter den Augen und auf den Nasenflügeln gehabt, sei aus dem Fluss gezogen worden, zwischen den Zehen Schlamm, Wasserläufer mit goldfarbenen Füßchen in ihrer Hand. Er zog Kickerbälle aus seiner Tasche und sagte: «So dick und hart waren meine Eier.» — Immer wieder tickte er die Bälle gegeneinander. «… hat gelutscht, bis sie so hart waren.» Dann beschrieb er wieder, wie sie unter dem Eis aufgetaucht war, dass sie blaue Ohrenschützer trug und ihre Augen wie von Nadeln zerstochen waren. Überall in der Nähe seien Schleien gewesen, denn die Schleie sei ein Totenfisch.
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Die Schleie (Tinca tinca) hat einen gedrungenen kräftigen Körper mit hohem Schwanzstiel. Ihr Rücken ist meist dunkelgrün oder braun, die Flanken sind hell und glänzen messingfarben. Jeder Fisch hat seinen ihm zugewiesenen Platz im Fluss. So bewohnt die Schleie langsam fließendes, weichgründiges Gewässer und lebt tagsüber am Grund zwischen dichten Pflanzenbeständen. Erst in der Dämmerung wird sie aktiv. Zum Laichen schließen sich die Schleien in Schwärmen zusammen und suchen flache, durchsonnte Uferbereiche mit dichtem Pflanzenbewuchs auf.
14
Ich versuche mein Glück mit einer 012er Vorfachspitze, an die ich eine künstliche Hoflandsfliege knüpfe. Die Hoflandsfliege ist bei direkter Sonneneinstrahlung geeignet, da sie selbst auf irisierenden Wasseroberflächen gut zu erkennen ist. Hermann hat sie mit roter Seide gebunden, die Flügel sind aus den hellbraun gesprenkelten Schwungfederspitzen einer Fasanenhenne gefertigt. Ich ziehe die Vorfachschnur durch einen gefalteten Grashalm, um das Fett zu entfernen und damit das Vorfach im Oberflächenfilm einsinken kann. Dann wate ich vom Ufer bis zu einer Biegung. Ich stehe im Fluss oberhalb des Bahnhofs. Ich schiebe die Rute beim Vorschwung nach vorn, wenn sich die Leine vorne gestreckt hat, ziehe ich die Rute nach hinten, für einen Moment, nachdem ich die Rute kurz gestoppt habe, liegt die Schnur hinter mir gestreckt in der Luft, und dann werfe ich meinen Köder aus.
Jungen überqueren die Gleise, sehen einen Moment zu mir hin und klettern dann auf der anderen Seite des Bahndamms die Böschung hinauf, um von dort über den Parkplatz zum Supermarkt zu gelangen. Einige von ihnen sind Schüler, die gestern zum Kickerspielen in der Gaststätte waren, ich hatte sie bedient, mit ihnen geredet. Bestimmt wissen die Jungen auch, was mit Hermann geschehen ist, bestimmt war es gestern Thema beim Abendessen in ihrem Elternhaus. So etwas geht wie ein Lauffeuer durch den Ort. ‹Ach, der Hermann …, ja kein Wunder, dass es einmal so kommen musste›, werden die Leute sagen, sie werden auch wieder über die Holländerin reden, die man im Frühjahr am Rauschen gefunden hatte. Vielleicht hat er ja doch was damit zu tun gehabt, wenn er solch verrückte Sachen macht, werden sie vermuten.
Seit Hermann vor einem Jahr bei der Arbeit im Staubsilo verunglückt und dort beinahe umgekommen war, ist er immer absonderlicher geworden. Vielleicht ist das zu viel für ihn gewesen, er war ja immer schon etwas seltsam und verschroben, sie werden denken: ‹Von seinen Geschwistern hat sich ja keiner um ihn gekümmert.›
Ich stehe im Fluss, erinnere mich, wie Alma zum ersten Mal zu uns in die Gaststätte kam und Mutter nach Arbeit fragte. Vorher hatte sie im Supermarkt gearbeitet, der damals noch gar kein richtiger Supermarkt war, sondern nur ein großer Lebensmittelladen in der Lagerhalle der einstigen Molkerei.
«Den ganzen Tag an der Kasse sitzen gefällt mir nicht», sagte sie zu Mutter. Damals trug sie eine Brille, schielte und fantasierte von ihren französischen Vorfahren, Hugenotten, die im 17. Jahrhundert in den Osten vertrieben worden waren. Sie spielte immer Französin, tauchte ihre Brötchenhälften in den Milchkaffee, den sie ‹café au lait› nannte, und führte die Tasse mit dem abgespreizten kleinen Finger zum Mund. Sie war, als sie bei uns anfing, sechzehn Jahre alt, drei Jahre älter als Hermann und ziemlich altklug.
Ich frage mich, wieso sie so viel mit uns zusammen war, die anderen Mädchen in ihrem Alter hatten schon erwachsene Freunde. Ihre Familie wohnte noch nicht lange in unserer Gegend, sie waren aus dem Osten gekommen, Aussiedler, Flüchtlinge, mit denen man damals bei uns nichts zu tun haben wollte. Ihr Vater arbeitete als Melker auf einem Siedlungshof, später wie fast alle hier in der Gegend im Zementwerk. Sonntags nach der Messe kam er in die Gaststätte. War er betrunken, redete er von ihrer Vertreibung aus Ostpreußen, vom eigenen Gutshof, davon, wie die Russen seine Frau in der Scheune vergewaltigt hatten. Er weinte, an der Theke sitzend, sagte, dass die Russen ihn umgebracht hätten, wenn er aus seinem Versteck gekommen wäre. Er war fleißig und sparsam, hatte bald ein Haus gebaut, in dem Almas Bruder jetzt mit seiner Familie wohnt.
Wann immer ich damals Alma in unserem Haus begegnete, sah sie mich verführerisch an. Ich half ihr beim Bettenmachen, sah ihr heimlich zu, wenn sie sich in ihrem Zimmer auszog.
«Ich weiß, was du willst, Leo, wenn du’s aus der Nähe sehen willst, musst du nur zu mir kommen, dann zeig ich dir alles», hauchte sie leise mit französischem Akzent, obwohl sie gar kein Französisch konnte. Bald saß ich auf ihrem Bett, sah ihre Brüste, ihre weißen, dünnen Beine, ihre enge Muschel. Sie zog mir die Hose aus, das Hemd und die Strümpfe und legte sich zu mir. Ich kroch in sie hinein, ganz hinein, bis ich dachte, nicht mehr auf dieser Welt zu sein. Manchmal ging ich nur mit Hermann zum Fischen, um ihn dann mit einer Ausrede zu verlassen und mich heimlich mit Alma zu treffen.
Ich gehe ins tiefere Wasser, bis ich zum Bauch in der Strömung stehe und der Fisch meinen Schatten nicht mehr sehen kann. Durch die Sonneneinstrahlung glitzert das Wasser irisierend, alle Wahrnehmungen scheinen sich in diesem Licht aufzulösen. Ich habe Hermanns Polarisationsbrille aufgesetzt. Der Fisch wartet so lange, bis der Köder in seiner Höhe ist, beäugt ihn gründlich, nimmt ihn entweder direkt, oder er steigt leicht an und schert aus. Nach einigen erfolglosen Würfen gehe ich ein Stück flussaufwärts, um mich dem Fisch von hinten zu nähern, den toten Winkel zu nutzen. Da Fische stets mit dem Kopf zur Strömung stehen, kann ich mich nah an sie heranpirschen. Nun stehe ich in der Mitte des Flusses und befische das gegenüberliegende Ufer. Um den Zielpunkt mit der Fliege zu erreichen, muss ich den Fisch zwangsläufig mit dem Vorfach überwerfen — wenn ich Pech habe, gerät die Fliegenschnur in seinen Sichtbereich und erregt seinen Argwohn. Auch andere, in der Nähe stehende Fische können vergrämt und von einem Biss abgehalten werden. Ich weiß nicht genau, wo die Forelle sich aufhält, sie springt nicht und ist so früh nicht zu sehen.