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Manchmal schreckte er nachts schreiend aus dem Schlaf, lag schweißnass im Bett. Die älteren Lehrlinge kehrten spät in der Nacht von ihren Sauftouren zurück, gingen lachend über die Flure, schlugen mit den Fäusten gegen seine Tür. Im zweiten Lehrjahr schwänzte Hermann immer häufiger den Unterricht, führte seine Berichtshefte nachlässig, rief kaum noch zu Hause an. Wenn er sich einmal meldete, versicherte er, dass alles okay sei und er nur viel lernen müsse, aber in Wirklichkeit lernte er gar nicht mehr. Er trieb sich in der Stadt herum, übernachtete in Parks oder Hauseingängen, wie er mir später auf seinen Kassetten berichtete. Als er dann wochenlang nicht nach Hause kam und auch nicht mehr anrief, erkundigte Vater sich im Lehrlingsheim und erfuhr, dass Hermann gar nicht mehr dort sei — man hatte angenommen, er sei zu uns nach Hause gefahren; einige Wochen blieb er spurlos verschwunden.

Eines Mittags, als ich aus der Schule kam, saß er in der Küche, einen leeren Teller vor sich und noch Essensreste an der Wange. Sein Gesicht war voller Eiterpickel, die nicht mehr weggingen, sich auf Wangen, Stirn und Hals entzündet hatten und kleine Narben hinterließen. Er hatte draußen übernachtet, zuletzt war er in Hamburg gewesen, hatte erfolglos versucht, auf einem Schiff anzuheuern. Vater schlug vor, er könne auch in der Gastwirtschaft mithelfen — da gerade Hauptsaison war, gab es genügend zu tun.

Hermann war damals achtzehn Jahre alt. Er stand jetzt abends hinter der Theke und bediente die Gäste, holte morgens die Frühstücksbrötchen bei Simons in der Bäckerei, richtete tagsüber, wenn keine Gäste im Haus waren, schleifende Türen, leimte wacklige Stühle, zimmerte Flaschenregale, sorgte für die Getränkebestellungen, schreinerte einen Wäscheschrank und reparierte die Tischspringbrunnen, die in den Gästezimmern standen und seit Jahren nicht mehr funktioniert hatten. Unter der Saalbühne richtete er sich eine kleine Werkstatt ein, in der er auch an einem Motorroller bastelte, auf dem er an seinen freien Tagen mit Alma durch die Eifel fuhr. Alma saß auf dem Sozius, legte ihre Arme um ihn und ihren Kopf an seinen Rücken.

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Die Elritze (Phoxinus phoxinus) ist ein kleiner Fisch, der zum Köder für die großen Fische taugt. Sie hat einen dünnen, daumenlangen, drehrunden Körper, mit grau- bis braungrüner Färbung und Querbinden, die golden schimmern. Sie schwimmt in flinken, aufgeregt schwebenden Schwärmen dicht unter der Wasseroberfläche unruhig und erwartungsvoll, formt seltsame schöne Gestalten, die nur den einen Grund haben, ihre Feinde zu irritieren.

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Etwa zwanzig Meter weiter abwärts macht der Fluss einen Bogen. Dort stehen am gegenüberliegenden Ufer große Forellen, die von der Wiese ins Wasser gefallene Heuschrecken und nicht selten auch Mäuse schnappen. Hermann saß oft an dieser Stelle, weil man die Fische vom Uferhang im klaren halbtiefen Wasser sehen konnte, ihre Form und die Größe ihrer Ringe beim Steigen. Alte, erfahrene Fische steigen vorsichtig, verursachen nur kleine Ringe, nehmen die Beute und touchieren beim Abtauchen mit dem Rücken die Oberfläche, oder sie drehen sich kurz auf die Seite, peitschen mit dem Schwanz ein-, zweimal und verschwinden wieder in der Tiefe.

Je älter ein Fisch wird, desto perfekter vermag er sich seiner Umgebung anzupassen, er wird immer vorsichtiger. Man muss sehr viel Geduld haben, um einen solchen Fisch zu fangen. Meine Freunde und ich hatten diese Geduld nicht, wir zogen es vor, mit Karbid zu fischen, eine grausame, aber effektive Methode, bei der man etwas Sprengstoff in eine Flasche gibt, einige Tropfen Wasser einfüllt, dann die Flasche verschließt und sie schnell in den Fluss wirft, sodass sie oberhalb der Stelle landet, wo die Fische stehen. Die Flasche taucht ein und treibt langsam den Fluss hinunter, während das entstehende Karbidgas sich im Flascheninneren ausdehnt, bis die Flasche, wenn man alles richtig gemacht hat, genau über den Fischen explodiert. Die Druckwelle zerreißt ihnen die Schwimmblase. Wir hatten einmal auf diese Art einen ganzen Schwarm gefangen, die toten Fische trieben auf der Wasseroberfläche, und wir mussten sie nur noch einsammeln. Als Hermann uns dabei erwischte, sagte er, dass wir das unterlassen sollten, und versuchte, mir den Sprengstoff abzunehmen. Ich wollte mir das nicht gefallen lassen, auch weil Alma bei ihm war. Ich wollte ihr imponieren, ihr zeigen, wer der Stärkere von uns war. Wütend stürzte ich mich auf meinen Bruder, schlug mit beiden Fäusten auf ihn ein. Ich glaubte ernsthaft, dass Alma mich mehr schätzen würde, wenn ich ihr zeigte, dass ich stärker als Hermann war. In dieser Zeit stromerte ich viel herum, legte mich mit jedem an, prügelte mich schon wegen Kleinigkeiten, während Hermann sich immer mehr zurückzog. Seit er seine Lehre abgebrochen hatte, nahm ihn niemand mehr ernst, außer Vater und Alma. Als Hermanns Nase blutete, sah er mich völlig perplex an, so als könnte er das nicht glauben, als würde er mich nicht wiedererkennen — doch ich war völlig außer mir. Hermann wehrte sich nicht, was mich nur wütender machte. Meine Kameraden johlten, feuerten mich an, für sie war es ein Spaß zu sehen, wie ich mit meinem älteren Bruder umsprang, wahrscheinlich hätten sie das auch gerne mal mit ihren Brüdern gemacht, von denen sie immer nur herumgestoßen und verdroschen wurden. Ich glaube, sie rechneten damit, dass Hermann sich jeden Moment wehren, ich endlich Prügel beziehen würde. Als Alma uns trennte, fiel ihre Brille zu Boden. Hermann versuchte sie aufzuheben, ich traf wieder seine Nase, sie brach, schwoll an und blutete. Hermann wehrte sich nun, ich bekam einen Schlag ins Gesicht, aber ich spürte keinen Schmerz. Wenn ich mich prügelte, rannte ich wie durch einen Tunnel und kannte nur ein Ziel. Wir wälzten uns am Ufer, um uns herum Fische mit geplatzten Schwimmblasen. Alma versuchte, uns zu trennen, mich von Hermann herunterzuziehen. Ich kniete auf ihm und hielt ihm einen Flaschenhals an die Kehle, ich weiß nicht, was ich getan hätte, wenn Alma nicht dazwischengegangen wäre. Sie stieß mich weg und bettete Hermanns Kopf auf ihren Schoß. Sie weinte und sagte mir, dass ich verschwinden und ihr nie mehr unter die Augen treten solle.

Danach gingen Hermann und ich uns lange aus dem Weg. Nur wenn das Haus voller Gäste war, teilten wir uns noch ein Zimmer, dann verschwand ich meist nachts und trieb mich mit Freunden herum. So vergingen einige Jahre. Als ich das Abitur machte, arbeitete Hermann zu Hause, erledigte alles, was es zu erledigen gab, und zog sich immer mehr in seine eigene Welt zurück, ich hatte kaum noch Kontakt zu ihm, er kam mir wie ein Fremder in unserem Haus vor.

Unsere Gaststätte lief schlecht, es kamen kaum noch Gäste, ein verregneter Sommer folgte dem nächsten, die ehemaligen Stammgäste reisten lieber nach Italien, Spanien oder Griechenland. Wir boten nicht genug Komfort, die Toiletten und Duschen waren noch auf dem Flur, viele Sommerfrischler störte der Rauschen, er raubte empfindlichen Menschen den Schlaf, man hörte ihn ja auch noch deutlich bei geschlossenem Fenster. Wir dagegen bemerkten ihn nur noch, wenn wir uns darauf konzentrierten. Außerhalb der Saison kamen nur noch durchreisende Vertreter, an Sonntagen nach dem Hochamt eine Handvoll Leute zum Frühschoppen oder nach den Fußballspielen die Mannschaften, zur Kirmes, zum Schützen- und Musikfest — alles nicht genug, um übers Jahr ein Auskommen zu haben. Oft konnten wir nicht mal die Getränkelieferanten bezahlen. Schließlich hatten wir nur noch eine Biersorte, aber gerade diese wollten die Gäste nicht. Im Supermarkt kaufte Alma billigen Schnaps und füllte ihn in teure Markenflaschen um.

1970 begann ich mein Studium, ich verbrachte meinen ersten Winter außerhalb der Eifel in einer Studentenbude in Düsseldorf. Ich war froh, endlich von zu Hause weg zu sein, und genoss das Leben und die Freiheiten der Stadt. Hermann arbeitete nun ebenso wie Vater als Hilfsarbeiter im Zementwerk. Sie warteten auf den Frühling, dass die Saison beginne und endlich wieder mehr Angler und Sommerfrischler kämen, aber auch in der folgenden Saison hatten wir nur wenige Gäste. Hermann und Vater wären am liebsten das ganze Jahr über jeden Tag zum Angeln gegangen. Die Treppe zum Pissoir musste damals umgebaut werden, weil Kleenbeen, ein dauernd betrunkener Stammgast, hinuntergestürzt war und sich einen Arm gebrochen hatte. Mutter konnte Alma kein Gehalt mehr zahlen. In diesem Frühjahr waren Vater und Hermann, wenn ihnen neben der Arbeit im Zementwerk etwas Zeit blieb, noch zusammen fischen gegangen.