Vater hatte Hermann mittlerweile alles beigebracht, was er über Fische wusste, er redete oft mit ihm über die Chronik, an der er schrieb, die vom Fischen und dem Glück handele, alles sollte in dieser Chronik stehen, was es über den Ort und den Fluss zu berichten gab. Vater klagte oft darüber, dass er arbeiten müsse, seine wertvolle Zeit damit vergeude, schnödes Geld zu verdienen, Geld, das er für sich persönlich gar nicht brauche. Vater brauchte nur den Fluss, die Fische und seine Bücher.
~ ~ ~
Das Neunauge (Lampetra planeri) ist gar kein richtiger Fisch, sondern ein sehr altes, schlangenähnliches, kleines Wirbeltier, fast so alt wie der große Fisch. Es lebt als Parasit in schnell strömenden Gewässern, in einem Untergrund aus Steinen und Kies. Das Neunauge wartet nur darauf, dass der große Fisch vorbeischwimmt, damit es sich mit seinem mit spitzen Schabzähnchen versehenen Saugmaul an die Flanke des großen Fisches heften und die Millionen Jahre alten, fast versteinerten Schuppen abraspeln kann. Während seiner jahrelangen Wanderung durch Flüsse und Meere ernährt sich das Neunauge von Muskelfleisch und Körperflüssigkeit des großen Fisches, bis es glaubt, ein Teil von ihm zu sein, dann abfällt und sich ekstatisch von Hunderten anderen Neunaugen begatten lässt, in einer Kiesmulde ablaicht und stirbt.
19
Mit der Angel im Fluss stehend, entsinne ich mich, wie Alma gestern wieder von der Küche in den Gastraum eilte, sie räumte dort die Tische ab, säuberte die Ascher, spülte Gläser. Der Elfuhrzug kam vorbei. Reese bemerkte, dass er diesmal pünktlich sei. Wir hörten, wie jemand das Treppenhaus hinunterlief, wie die Tür des Nebenausganges ins Schloss fiel. «Vielleicht war es Hermann», sagte Claudia. Die Schwestern standen auf und gingen nach draußen. Doch von Hermann war keine Spur zu sehen, nach wie vor war seine Tür verschlossen. Dennoch meinten die Schwestern, Hermann habe das Haus verlassen, mutmaßten, dass er angeln sei. Sie ließen sich darüber aus, wie sinnlos diese Beschäftigung eigentlich sei, früher einmal habe das Sinn gehabt, aber jetzt sei es nur noch Tierquälerei und Zeitvergeudung. Sie sahen dabei mich an, als wollten sie eine Bestätigung dafür. Vielleicht erinnerten sie sich, wie wenig mich das Fischen damals interessiert hatte. Doch jetzt ist das anders, jetzt will ich unbedingt einen großen Fisch erwischen.
Ich habe mich entschieden, mit einer Nassfliege mein Glück zu versuchen. Vater und Hermann bevorzugten das Fischen mit diesem Köder, der ein ertrunkenes oder im Wasser lebendes Insekt imitiert. Ich weiß noch, dass man Strömungen, Wirbel und Kehren gezielt ausnutzen muss, um den Köder in den Zugriffsbereich der Fische zu bringen. Ich knüpfe den Köder einer Motte ans Vorfach, klemme danach ein gespaltenes Schrotkorn auf, um mit dem Köder Tiefe zu gewinnen. Der Körper der Motte ist aus weißer Seide mit silberner Körperrippung. Hermann hat hinter dem Hakenöhr die weiche Hennenhechel um den Hakenschenkel gewunden und zarte eng anliegende Daunenfederflügel angebracht. Ich werfe den Köder schräg stromabwärts, lasse ihn so weit wie möglich ungehindert abtreiben. Die Strömung führt ihn zum gegenüberliegenden Ufer, bis Schnur und Vorfach voll gestreckt sind. Dann zupfe ich ihn langsam heran, Dezimeter um Dezimeter, zwischendurch lasse ich ihn wieder einige Meter abtreiben, um seinem Bewegungsspiel Abwechslung zu geben. Die über den Zeigefinger der Wurfhand geführte Schnur bündele ich in der linken Hand. Während ich die Fliege heranziehe, deute ich mit der Rutenspitze kleine zitternde Bewegungen an, die über die Schnur auf den Köder übertragen werden. Gespannt beobachte ich den Gewässerabschnitt, wo sich der Köder unter Wasser befindet, bis ich eine blitzende Fischflanke auftauchen sehe, warte, bis die Schnurspitze stoppt oder zur Seite gezogen wird. Es geschieht aber nichts, ich muss Geduld haben, Geduld, viel Geduld haben.
Während ich warte, denke ich an Alma, die gestern in der Küche äußerte, dass ohne die Holländerin noch alles hätte gut werden können. Sie könne noch gar nicht begreifen, dass Hermann weg sei, sie sprach von der Gaststätte und davon, dass sie nicht wisse, was sie nun machen solle, die Schwestern würden die Wirtschaft bestimmt verkaufen, sie könne jetzt doch nichts Neues mehr anfangen, sie müsse sich irgendeine andere Arbeit suchen, irgendeine Arbeit.
«Ich hätte nie zurückkommen dürfen», sagte sie weinend. «Ich hätte damals nach Paris gehen sollen.» Alma hatte bei uns gekündigt, nachdem Mutter ihr ein halbes Jahr kein Gehalt gezahlt hatte, sie kam nicht mehr so gut wie früher mit Mutter zurecht. Nach ihrer Kündigung arbeitete sie in einem Hotel in Trier. Hermann war, als ich Alma dort traf, bereits auf See, er war einfach abgehauen. Ich wusste nicht viel von dem, was zu Hause geschehen war, wollte es auch nicht wissen, war froh, von dort weg zu sein.
Mein Studium hatte ich abgeschlossen und soeben meine erste Anstellung angetreten. Als ich Alma begegnete, gingen wir auf ihr Zimmer und schliefen miteinander. Es war ein sehr heißer Sommertag, besonders in Trier, wo sich die Hitze über dem Flusstal seit Tagen staute. Wir lagen nackt in ihrem Bett. Alma erzählte mir, dass sie auch wegen Hermann von zu Hause weggegangen sei, nicht nur, weil Mutter ihr Gehalt nicht mehr bezahlen konnte und ihre Nörgeleien unerträglich geworden waren. Sie sagte, Hermann habe nichts mehr von ihr wissen wollen, sie wie den letzten Dreck behandelt und sich nur noch mit Salm und Knuppeglas herumgetrieben, auch mit Vater habe er sich entzweit. Hermann sei ganz anders geworden, er bändele mit Frauen in der Campingschenke an, Frauen, die nur dorthin kamen, um sich für einen Abend zu amüsieren, und Männer für die Urlaubstage suchten, junge Männer, die mit ihnen tanzten, vielleicht auch mehr, wenn es sich ergab. Aber Hermann sei für die auch nur ein exotischer, spinnerter Kerl, jemand, der sich volllaufen lasse, auf seiner Klarinette spiele, beim Tanzen herumhüpfe und verrückte Dinge erzähle. Nachts torkele er über den Campingplatz zum Fluss.
«Er hat mich beschimpft, mir Vorwürfe gemacht — auch deinetwegen.» Sie erzählte, Hermann habe in dieser Zeit alles mitgemacht, was Salm und Knuppeglas anstellten. Die drei stiegen in Wochenendhäuser ein, klauten Eisen-, Blei- und Zinkschrott von Baustellen, brachen Autos auf. Es war einträglicher, als im Zementwerk zu arbeiten oder in der Stadt zu jobben. Knuppeglas, der damals noch mit Schrott handelte, verkaufte das Diebesgut in Belgien. In einer Autowerkstatt im Industriegebiet stahlen sie alles, was sich irgendwie zu Geld machen ließ. «Der Heizungskeller und der Raum unter der Bühne waren voll von geklautem Zeug», sagte Alma.
Eines Nachts erschien Sartorius mit einigen Kollegen in der Gaststätte, sie suchten Hermann, der hielt sich in Vaters Büro versteckt. An der Theke stehend, beteuerte Sartorius, dass Zeugen Hermann gesehen hätten, er vermutlich zu einer gefährlichen Diebesbande gehöre, der man jetzt endlich auf die Schliche gekommen sei. Vater ließ sie aber nicht im Haus herumschnüffeln. Hermann kauerte zitternd in Vaters Büro, hatte Angst, ins Gefängnis zu kommen. Vater steckte Hermann Geld zu, half ihm beim Packen, brachte ihn in derselben Nacht noch mit dem Auto nach Köln, von wo aus er mit dem Zug nach Hamburg fuhr.