Выбрать главу

«Die Brücke», schrie Zehner, «hat uns damals gerettet, beim plötzlichen Tauwetter mit Regen ist der ganze Schnee abgegangen.» Ich kannte diese Geschichte, erinnerte mich, dass sie oft erzählt worden war, früher, wenn ich als Jugendlicher hinter der Theke stand und bedienen musste. Die Leute hatten von Eismassen berichtet, die sich durch das Tal herangewälzt, doch denen die Brücke standgehalten hatte.

In einer Nacht hatte sich das Eis im Fluss gelöst. Mit Getöse trieben im Dunkeln gewaltige Eismassen heran. Die Brücke bebte und wankte, der Fluss staute sich innerhalb weniger Minuten, das Wasser trat weit über die Ufer. Die Menschen schreckten aus dem Schlaf, Wasser drang in die Wohnungen und Ställe, das Vieh stand bis zum Kopf im Wasser, man hatte Mühe, es loszubinden, um es zu retten, Kühe schwammen aus den Ställen hinaus, wurden von großen Eisschollen unter Wasser gedrückt, zahlreiche Hühner, Kälber und Schweine ertranken. Schuhe, Stiefel, Gerät, Vorräte, auch die Felle der Gerberei trieben herum, ein Kalb brachte man noch rechtzeitig auf den Heuboden, eine alte, seit Jahren krank liegende Frau schwamm in ihrem Bett auf dem Fluss. Das Eis wälzte sich durch die Straßen, spülte Misthaufen weg, stürzte Heuwagen um und trieb alles vor sich her, knickte hohe Pappeln um wie Strohhalme. Die Brücke wankte, wäre sie gebrochen, hätte die Flut den unteren Teil des Ortes, unsere Gaststätte und die Zehnermühle einfach weggerissen, kein Stein wäre auf dem anderen geblieben, wenn sie nicht standgehalten hätte.

«Alle Mann standen wir da oben auf der Brücke, versuchten mit Stangen und Spitzhacken die Eisschollen zu brechen», schrie Zehner und fuchtelte dabei mit den Händen in der Luft herum. Die Brücke hatte standgehalten. Am nächsten Morgen waren in einem Sonderzug Pioniere gekommen, hatten das Eis vor der Brücke gesprengt und den Fluss so wieder ins richtige Bett geleitet.

Nachdem die Bauarbeiter bedient waren, gab Alma auch mir etwas zu essen, stellte Kartoffeln, Äschen und Salat auf den Tisch und setzte sich zu mir. Währenddessen schwafelte Zehner an der Theke weiter, jetzt wieder von seiner Mühle, streckte seine Zunge heraus und versuchte, seine haarige Nase zu berühren. Alma sagte zu mir, dass der Getränkelieferant am Nachmittag kommen würde. Sie müsse noch die Zimmer fertig machen, einige Motorradfahrer und Angler hatten sich angemeldet. Sie ging zum Regal über dem Kühlschrank und holte ein Küchentuch heraus. Im Radio liefen gerade Nachrichten, dann spielte Musik, Lieder, die mir als Jugendlicher gefallen, Musik, wie wir sie gehört hatten, wenn wir nach der Schule auf den Felsen am Wehr saßen und kifften. Ich erinnerte mich, wie ich mit Alma nach dieser Musik eng umschlungen getanzt und Hermann auf seiner Klarinette gespielt hatte. Einige Zeit war er im Musikverein gewesen, bis er sich auch mit denen überworfen und nur noch allein für sich musiziert hatte.

Nachdem ich gegessen hatte, trocknete ich das Geschirr ab. Reese war in ihrem Stuhl eingeschlafen. Alma sagte, Reese brauche immer um diese Zeit ihren Mittagsschlaf. Sie nahm mir die abgetrockneten Teller und Schüsseln aus der Hand und stellte sie in den Schrank. Als ich nach der Holländerin fragte, antwortete sie, dass sie nicht darüber sprechen wolle.

Später wurde Bier angeliefert, und die Fässer wurden in den Keller gerollt. «Nach der Kirmes werden wir bezahlen», vertröstete Alma die Lieferanten. Früher waren die Kirmestage das beste Geschäft des Jahres gewesen. Im Saal gab es Tanzbälle, drei Tage wurde nur gefeiert, unsere Eltern konnten danach mit dem Verdienst den Verlust des ganzen Jahres wieder ausgleichen.

Es regnete nun so heftig, dass die Brückenarbeiter ihre Arbeit unterbrachen und in die Gaststätte zurückkamen. Der Ingenieur räumte Aschenbecher und Deckchen vom Tisch und breitete eine Zeichnung aus, erklärte den Arbeitern, dass bei einem Strömungspfeiler die Belastung bei Hochwasser besonders hoch sei und dass der Pfeiler näher untersucht werden müsse. Jemand müsse auf den Plafond unter die Brücke klettern, wo die Versorgungsleitungen verliefen. Die Männer beugten sich über den Plan, der Ingenieur zeigte auf kritische Stellen, dann gingen sie zum Fenster und blickten zum Pfeiler. Der Regen hatte nachgelassen. Ein Arbeiter schlug vor, an einem Strick auf den Vorsprung des Pfeilers hinabzuklettern. Den Strick könne man an der Anhängerkupplung der Pritsche oben auf der Brücke sichern. Der Ingenieur war zuerst skeptisch, ging dann aber doch auf den Vorschlag des Arbeiters ein. Alma servierte ihnen Schnaps.

~ ~ ~

Köder: Alles ist Täuschung, nichts ist wahr. Fische verhalten sich dieser Wahrheit entsprechend, sie wollen wohl getäuscht werden durch etwas, das sie über alles begehren, seien es bunt schillernde Facettenflügel, die Hechel, ein silberner Blinker, die Illusion eines auf dem Wasser treibenden, verführerischen Insekts, das Glück. Aber vielleicht täuscht der Fisch auch uns.

22

Als ich vor Jahren nach langer Zeit wieder von Hermann hörte, arbeitete er auf einem Frachtschiff. Ich erinnere mich, wie die erste Kassette von ihm ankam, für die ich mir dann einen Rekorder kaufte, um sie anhören zu können. Hermann beteuerte auf dem Band, dass er uns allen verziehen habe, dass er während der Jahre auf See viel Zeit zum Nachdenken habe, er schwärmte vom weiten, glitzernden Meer, dass es erhaben und sehr schön sei, er sich aber doch nach unseren Flüssen sehne, er berichtete von seiner Arbeit als Schiffsmechaniker, von der Passage durch den Suezkanal, von der Wüste, von kleinen ärmlichen Steinhäusern am Ufer, kurzen Aufenthalten in Häfen, Reparaturarbeiten am Schiff, dass er keine Zeit gehabt habe, Städte anzusehen, von einem Sturm mit haushoch heranrollenden Wellen, Monsunregen, der über das Schiffsdeck gepeitscht sei. Auch später schickte er immer nur Kassetten, nie Ansichtskarten, keine Briefe, keine Fotografien, weder von dem Schiff noch von den Ländern, in denen er gewesen war. Es gibt überhaupt nur wenige Fotos von meinem Bruder, er ließ sich ungern fotografieren. Einmal lag eine Zeichnung von einem Fliegenden Fisch der Kassette bei. Hermann hatte die Reederei gewechselt, fuhr nun auf einem großen Containerschiff, verdiente mehr Geld, arbeitete aber dafür nur noch unter Deck im Maschinenraum. Einmal hatten sie mit einem Motorschaden mitten im Indischen Ozean gelegen und auf Ersatzteile gewartet. Manchmal redete er auf den Kassetten auch vom Fluss, vom Angeln und unseren Fischen, fragte, ob ich mit ihm zum Fischen gehen wolle, wenn er wieder zurück sei.

Wie viel Wasser mag in dieser Zeit den Fluss hinuntergeflossen sein, vielleicht genug, um ein Meer zu füllen, wie viele Dinge sind in dieser Zeit geschehen, bestimmt genug für ein ganzes Universum von Geschichten.

Ich spüre einen Ruck an der Schnur, muss mich jetzt ganz auf den Fisch konzentrieren, darf an nichts anderes denken, deswegen stehe ich ja schließlich hier. Ich atme einmal tief durch, hebe die Rute an, bis die Schnur zwischen Rutenspitze und Fisch straff ist, halte sie so, dass sie deutlich Spannung hat. Dabei dringt der Haken hoffentlich tief in die harte Maulpartie des Fisches ein. Es ist eine schwere Forelle, sie beißt nicht auf die Fliege, sondern sie saugt den angebotenen Nahrungsbrocken samt einem kräftigen Schluck Wasser ein. Das Wasser strömt durch ihre Kiemen wieder aus, die Fliege bleibt in der Mundhöhle zurück. Aber diesmal ist es mein Haken, der in ihrem Kiefer steckt. Die Forelle erschrickt, reagiert mit Flucht, ich lasse sie ruhig einige Meter ziehen, bis sie an einer ihr Schutz bietenden Stelle steht. Dann nehme ich vorsichtig Kontakt auf, indem ich die Schnur wieder verkürze, gehe gleichzeitig einige Meter auf den Fisch zu, um die Distanz zu verringern. Mit der Hand an der Schnur kann ich besser auf seine Befreiungsversuche reagieren. Als ich Kontakt mit ihm habe, versucht er sich erneut in Sicherheit zu bringen. Ich lasse ihn gewähren, versuche, ihn aus dem tiefen Wasser zu bringen, um ihn in einem hindernisfreien Bereich müde zu drillen. Wenn ich ihn dort habe, werden seine Kräfte schnell erlahmen, er wird sich in einem weitgehend wirkungslosen Oberflächengefecht verausgaben, wobei seine vordere Kopfpartie manchmal aus dem Wasser gerät, was seine Atmung erschwert, wenn nicht gar unterbricht. Aber er scheint zu wissen, was ich vorhabe, wehrt sich, denn das ins Wasser getauchte Vorfach kommt plötzlich nach oben, was heißt, dass er jetzt springen oder sich an der Oberfläche wälzen wird, wodurch das Vorfach reißen und er mir entwischen könnte. Ich senke die Rutenspitze daher bis zur Wasseroberfläche, damit der nach oben gerichtete Schnurzug entfällt und er abtauchen kann. Und genau das macht er auch, er taucht und taucht, das Wasser ist an dieser Stelle bestimmt zwei bis drei Meter tief. Er findet Schutz hinter einem Fels, in einer kleinen Höhle unter dem Fels. Mein Gott, er wird mir entwischen, er ist mir überlegen — jeder große und erfahrene Fisch scheint mir überlegen zu sein. Ich werde es nie lernen, stehe letztendlich mit gerissenem Vorfach wie ein Trottel da, meine Hände zittern noch, während ich die Schnur einhole und wütend mit meiner Rute aufs Wasser schlage. «Mist, es ist immer noch wie früher, nichts hat sich geändert, aus mir wird nie ein guter Angler.» Jeder Fisch, der mir entwischt, schwimmt mit einem Stückchen von meinem Mut davon. Ich fühle mich völlig leer, denke daran aufzugeben, mich in den nächsten Zug zu setzen und nach Hause zu fahren, aber wo ist mein Zuhause?