Kathryn bewegte sich unbehaglich. »Es wird wehtun. Sobald ich — sobald ich begreife, daß es tatsächlich geschieht. Wird er heute abend gehen?«
»Das wird am besten sein.«
»Wie bald?«
»In ein paar Stunden. Für ein Lebewohl ist noch Zeit. Dann ein glatter Bruch, Schluß. Er gehört nicht auf diese Welt. Er kann niemals zurückkehren. Hat er Ihnen von den Verträgen erzählt?«
»Ja.«
»Dann kennen Sie die Situation.«
»Ich sehe es ein. Aber ich will es nicht einsehen. Ich versuchte zu glauben, er würde immer bei mir bleiben, ich könnte immer für ihn da sein.«
»Sind Sie gern für andere da?« fragte Glair.
Kathryn lächelte. »Ist das nicht offensichtlich?«
»Würden Sie sich dann um jemand anderen kümmern? Mir zuliebe? Da ist ein Mann in Albuquerque — der Mann, der sich meiner angenommen hat. Er ist jetzt allein. Er braucht jemanden, der ihm Wärme entgegenbringt, der ihm hilft. Ich habe ihm ein wenig von Ihnen erzählt. Besuchen Sie ihn in einem oder zwei Tagen, Mrs. Mason. Sprechen Sie mit ihm. Sie und er haben viel gemeinsam.«
»Das ist alles, was Sie von mir wollen? Daß ich mit ihm rede?«
»Mehr kann ich nicht erwarten«, sagte Glair. »Wer kann diese Dinge voraussagen? Besuchen Sie ihn trotzdem. Werden Sie es tun?«
»Meinetwegen«, sagte Kathryn. »Ja.«
»Hier ist seine Adresse.«
Sie gab Kathryn eine Karte. Kathryn warf einen Blick darauf und legte sie weg. Tom Falkner — der Name sagte ihr nichts. Sie würden einander begegnen, trotzdem. Und einander ihr Leid klagen.
Glair nahm ihre Krücken und stand unbeholfen auf. »Ich möchte Ihnen danken, Kathryn. Daß Sie für ihn gesorgt haben. Daß Sie ihn aufgenommen haben. Mehr kann ich nicht sagen. Nur meinen Dank.«
Kathryn seufzte. »Vielleicht sollte ich auch dankbar sein. Daß ich ihn wenigstens für diese kurze Zeit bei mir hatte.«
Glair humpelte zur Schlafzimmertür. »Ich werde jetzt ein paar Worte mit ihm sprechen, dann lasse ich Sie mit ihm allein.«
Sie verschwand im Schlafzimmer, ohne die Tür ganz zu schließen. Als sie Vorneen anredete, sprach sie Englisch, und Kathryn verstand, daß auch für sie bestimmt war, was sie hörte.
»Du hattest großes Glück, Vorneen«, sagte Glair. »Du wurdest von genau der richtigen Person gefunden und aufgenommen.«
»Ja, das denke ich auch.«
»Du möchtest sie jetzt nicht verlassen?«
»Ich habe sie liebgewonnen, Glair. Mehr als ich es jetzt in Worte fassen kann. Aber ich kann nicht bleiben, nicht wahr?«
»Nein.«
»Das Abkommen…«
»Das Abkommen, ja.«
»Wie hast du mich gefunden?«
»Das ist jetzt nicht wichtig. Sartak hat dich gefunden. Und mich. Ich erzähle dir die ganze Geschichte später. Fühlst du dich gesund, Vorneen?«
»Ein bißchen angeschlagen, sonst ganz gut. Und du?«
»Desgleichen. Wo ist dein Anzug?«
»Versteckt.«
»Vergiß ihn nicht, wenn du gehst. Nimm alles mit, was du bei der Landung hattest.«
»Natürlich.«
»Und versuche ihr zu erklären, daß es nötig ist. Daß du unmöglich bleiben kannst. Daß die Beobachter nicht mit den Beobachteten zusammenkommen dürfen. Ich habe das mit Tom auch so gemacht. Er ist der Mann, der mich aufgenommen hatte.«
»Es fiel dir nicht leicht, von ihm fortzugehen, wie?«
»Du weißt, wie es ist. Ein Abschied ist nie leicht. Aber ich habe mich von ihm getrennt. Und du wirst dich von Kathryn trennen. Nach einer Weile wird der Schmerz aufhören.«
»Für uns oder für sie?«
»Für alle«, sagte Glair. »Wir sehen uns später. Schalte das Licht über dem Eingang an, wenn du fertig bist. Unser Wagen steht ein Stück weiter unten. Du brauchst dich nicht zu beeilen.«
Glair kam aus dem Schlafzimmer zu Kathryn, die wie erstarrt an der Tür stand. Die Tatsache ihres Verlustes begann allmählich in ihr Bewußtsein einzusickern. Sie versuchte sich einzureden, daß sie nichts verloren habe, weil Vorneen niemals ihr gehört hatte. Er war nur ein Gast gewesen, ein Besucher. Was zwischen ihnen gewesen war, hatte von Anfang an den Keim des Vergänglichen in sich getragen.
Glair drückte ihr beide Hände. Sie begann etwas zu sagen, unterdrückte die Worte jedoch, bevor sie über ihre Lippen kamen. Kathryn kämpfte mit den Tränen.
»Ich werde ihn nicht lange aufhalten«, murmelte sie.
Sie öffnete die Tür und ließ Glair hinaus, dann drehte sie um und ging ins Schlafzimmer. Vorneen stand am Fenster. Ohne sich ihrer Bewegungen bewußt zu werden, fand Kathryn sich neben ihm.
Sie hatten einander soviel zu sagen — und so wenig Zeit, in der sie es sagen konnten.
21.
Tom Falkner sagte: »Wollen Sie einen Moment hereinkommen?«
»Gern«, sagte Kathryn.
Er sperrte auf und schaltete das Licht ein. Den ganzen Nachmittag waren sie in Albuquerque herumgefahren. Sie habe ihre kleine Tochter bei einer Nachbarin gelassen, sagte sie, und sie wiederholte ständig, daß sie nach Haus müsse, um das Abendessen vorzubereiten. Aber jedesmal, wenn es soweit gekommen war, daß ihrem Aufbruch nichts mehr im Weg stand, hatte Kathryn eingewilligt, noch ein wenig zu bleiben. Und nun waren sie in seinem Haus.
Jetzt sah er sie zum erstenmal genauer. Im Wagen hatte er sie nur flüchtig und für kurze Augenblicke gesehen. Sie war groß und schlank und nicht mehr ganz jung, dreißig, schätzte er, aber viel jünger als er. Man konnte sie nicht hübsch nennen, mit diesen breiten Backenknochen und den dünnen Lippen und den knochigen Armen und Beinen, aber sie war auch nicht unattraktiv. Im Moment lagen ihre Augen tief in den Höhlen und waren von dunklen Ringen umgeben. Anscheinend hatte sie in letzter Zeit nicht viel geschlafen. Er auch nicht, weiß Gott.
Er sagte: »Natürlich dürfen wir keiner Seele etwas von unseren Erlebnissen sagen.«
»Nein. Wer möchte schon für verrückt gehalten werden?«
Er schmunzelte. »Wir könnten immer noch einen neuen Kult begründen und Frederic Storm Konkurrenz machen. Wir errichten einen Tempel und predigen das Evangelium der Beobachter, und…«
»Lieber nicht.«
»Es war nicht mein Ernst. Wollen wir etwas trinken?«
»Ich glaube, wir können es beide gebrauchen«, sagte Kathryn.
»Meine Auswahl ist sehr begrenzt. Ersatzwhisky, Tequila, Traubenschnaps…«
»Irgendwas«, sagte Kathryn. »Ich mache mir eigentlich nichts aus dem Geschmack von Schnäpsen. Geben Sie mir einfach eine Spraydose.«
»Das ist kaum eine elegante Art zu trinken.«
»Ich bin kaum eine elegante Person zu nennen.«
Er lächelte und brachte ein Tablett mit Spraydosen. Sie nahm eine, und um nicht unhöflich zu sein, bediente er sich gleichfalls. Schweigend injizierten sie das Zeug in ihre Arme. Danach sagte er: »Ihr Mann war bei der Luftwaffe, sagten Sie?«
Sie nickte. »Theodore Mason. Er wurde über Syrien abgeschossen.«
»Das tut mir leid; dieser Krieg stand für uns unter einem unglücklichen Stern. Ich kannte Ihren Mann nicht. War er in Kirtland stationiert?«
»Bis er nach Übersee versetzt wurde.«
»Es ist ein großer Stützpunkt«, sagte er. »Ich wünschte, ich hätte ihn kennengelernt.«
»Warum sagen Sie das?«
Er errötete. »Ich weiß nicht. Einfach, weil er — weil er Ihr Mann war. Und es wäre vielleicht nett gewesen, wenn… Zum Teufel, ich rede wie ein schüchterner Schuljunge. Ein überständiger Jüngling von dreiundvierzig. Noch eine Dose?«
»Danke, im Moment nicht.«
Er nahm auch keine. Sie brachte ein Foto von ihrer Tochter zum Vorschein. Falkners Hand zitterte ein wenig, als er die Aufnahme mit den Fingerspitzen hielt und ein nacktes kleines Mädchen von zwei oder drei Jahren sah, das vor einem Busch stand und ihn angrinste.