Schweigen auf der anderen Seite. Dann ein Flüstern. »Eins muss ich dir zugestehen, Lady, in dir fließt wirklich das Blut einer Eóghanacht. Bist eine echte Kämpfernatur. Das ändert aber nichts an der Sache. Was dir da vorschwebt, ist einfach töricht. Du kannst von der Terrasse unmöglich überblicken, wie es sich mit der Felswand weiter unten verhält. Wir könnten leicht auf halber Strecke festsitzen.«
»Ich werde morgen versuchen, die Sache etwas genauer zu erforschen. Wenn ich den Eindruck gewinne, es ist machbar, dann bin ich entschlossen, es zu wagen, egal, ob es töricht ist oder nicht«, erwiderte sie entschieden.
»Und was ist mit den anderen Problemen? Wie sollen wir die Mantelsäcke in die Bibliothek bekommen, wie Verpflegung beschaffen, wie die Route festlegen, um unbeachtet bis zum Pénas zu gelangen, geschweige denn ihn zu erklimmen und auf der anderen Seite wieder runter nach Bobium zu gelangen – Schwierigkeiten ohne Ende. Nein, das mit der Flucht müssen wir uns aus dem Kopf schlagen.«
»Schade um den Mann, der im Gewittersturm ertrinkt, denn dem Regen folgt Sonne«, konterte Fidelma und spielte auf eine alte Redewendung aus ihrem Heimatland an, mit der man die schalt, die sich scheuten zu handeln. »Ich bleibe bei meinem Vorhaben. Das Meer wartet nicht, bis das Schiff seine Fracht geladen hat. Es ist das Schiff, das die Gezeiten abpassen muss.«
Bruder Eolann erwiderte nichts.
Fidelma brauchte eine Weile, ehe ihr die Augen zufielen und sie einschlief.
Das schabende Geräusch des hölzernen Riegels an der Tür zu ihrem Verließ weckte sie. Sie schreckte hoch. Durch den einfallenden Mondschein war der Raum merkwürdig hell.
Im Türrahmen stand eine hochgewachsene Gestalt, die eine Hand abdunkelnd vor die Flamme einer Lampe hielt.
»Suidur!«, entfuhr es Fidelma erschrocken, denn sie hatte ihn sofort erkannt. »Was hast du vor?«
»Bleib ganz ruhig!«, zischelte er. »Kleide dich an und pack deine Sachen zusammen, und zwar schnell.«
»Was führst du im Schilde? Wenn du mir etwas antun willst, rühre ich mich nicht vom Fleck.«
»Dir wird nichts geschehen, edle Dame. Es geht darum, dir zur Flucht aus der Festung hier zu verhelfen, du musst dich schon auf mich verlassen. Jedes Zögern birgt die Gefahr, dass man uns entdeckt.«
Fidelma blinzelte ungläubig. »Wo aber …?«
»Grasulf und Kakko schlafen ihren Rausch aus«, flüsterte er. »Natürlich habe ich ein wenig nachgeholfen und ihre Vorliebe zu starkem Gebräu genutzt. Aber viel Zeit bleibt uns nicht. Hast du etwas, um deinen Kopf zu verhüllen?«
Sie zögerte einen Moment. Durfte sie ihm wirklich trauen? Wie hatte ihr doch einmal der gute alte Brehon Morann geraten? Pack das Schwein am Hinterfuß und lass es nicht laufen.
Sie entschloss sich zu handeln. »Gut. Gilt das auch für Bruder Eolann?«
»Selbstverständlich, Lady. Er ist schon draußen und wartet.«
»In Ordnung. Ich werde tun, was du verlangst.«
Suidur wandte sich um, blieb aber in der Tür stehen, als müsse er den Hof überwachen. Nur wenige Augenblicke, und Fidelma stand draußen neben Bruder Eolann, der bereits den Mantelsack auf dem Rücken hatte. Suidur, immer noch mit der Lampe in der Hand, flüsterte: »Haltet euch dicht hinter mir.« Dann führte er warnend den Finger an die Lippen.
Obwohl es Fidelma etwas bang ums Herz war und ihr viele Fragen auf der Zunge lagen, folgte sie schweigend dem weißhaarigen Arzt über den Hof, beruhigt durch die Gewissheit, dass Bruder Eolann unmittelbar neben ihr war. Die Tore waren verschlossen. Suidur näherte sich unbekümmert einem auf der Erde sitzenden Wächter, dem vor Müdigkeit der Kopf weggesackt war. Beschämt rappelte er sich auf, als er Suidur gewahr wurde.
»Könnte dir schlecht bekommen, wenn dich Grasulf hier schlafend erwischt«, sagte Suidur streng.
Ängstlich blickte der Wächter in die Runde, als fürchtete er, der Seigneur von Vars könnte tatsächlich auftauchen.
»Ich habe nicht wirklich geschlafen, Herr. Du sagst doch hoffentlich nichts …?«
»Nur, wenn du dich jetzt bewegst und das Tor für meine Gefährten und mich aufsperrst. Wir sind schon spät dran und müssen uns eilen, jemandem eine Botschaft deines Herrn zu überbringen.«
Zu Fidelmas Erstaunen kam der Torwärter der Aufforderung ohne jedes Überlegen nach, ja, verbeugte sich fast, als sie schweigend an ihm vorbeischritten und die Burg verließen.
Draußen führte der Pfad, wie sie sich erinnerte, steil und sich windend nach unten, über ihnen die Festung, die förmlich an der Felswand klebte. Suidur hatte seine Lampe gelöscht, denn der Vollmond leuchtete hell genug, und ging schweigend behände bergab. Sie gaben sich alle Mühe, mit ihm Schritt zu halten.
Schließlich erreichten sie die etwas tieferen Gefilde, wo es wieder Baumbestand gab. Aus dem Schatten der Bäume löste sich die Gestalt eines Kriegers und stellte sich ihnen in den Weg. Suidur blieb keineswegs erschrocken stehen, sagte nur leise etwas, woraufhin der Mann nickte und ins Dunkle winkte. Ein zweiter Mann tauchte auf, er führte drei Pferde. Suidur drehte sich zu Fidelma und Bruder Eolann um. »Es tut mir leid, ihr werdet jeweils hinter einem meiner Leute sitzen müssen«, erklärte er ihnen. »Zusätzliche Pferde kann ich jetzt nicht beschaffen, aber wir müssen sehen, dass wir vor Tagesanbruch ein gut Stück von hier wegkommen.«
»Darf ich fragen, warum du all das für uns tust?«, fragte Fidelma.
Seine Mimik konnten sie im Dunkeln nicht ausmachen, aber seine Antwort klang ironisch. »Hat es euch beim Seigneur von Vars so gut gefallen, dass ihr gern länger seine Gäste bleiben wolltet?«
»Natürlich nicht, aber …«
»Dann spare dir deine Fragen auf, bis wir diesen Ort weit hinter uns gelassen und den Schutz der Berge erreicht haben.«
Die beiden Krieger schwangen sich auf die Pferde und halfen Fidelma und Bruder Eolann, hinter ihnen aufzusitzen. Suidur saß bereits im Sattel, und fast lautlos ritten sie durch den Wald, wobei sie vorsichtig die baumlosen Stellen umgingen, die einen Blick auf die Siedlung unterhalb der Festung des Seigneur von Vars freigaben. Für einen Arzt bewies Suidur erstaunliches Geschick, sich einen Weg durch das Walddickicht zu bahnen. Fidelma gewann den Eindruck, dass er ursprünglich Soldat gewesen sein musste, ehe er Arzt wurde.
Sie klammerte sich an den vor ihr sitzenden Reiter und versuchte, sich einen Reim auf die Vorgänge zu machen. Waren das hier dieselben Männer, die sie im Gespräch mit Suidur auf der Burg von Radoald beobachtet hatte? Die gleichen Männer, die Zeuge gewesen waren, als man sie und Bruder Eolann als Gefangene auf die Festung des Seigneurs von Vars gebracht hatte? Als Suidur auf der Burg von Grasulf auftauchte, wurde er ganz offensichtlich willkommen geheißen. Wieso rettete er dann sie und Bruder Eolann? Es passte irgendwie nicht zusammen.
Vielerlei Fragen gingen ihr durch den Kopf, während sie im gleichmäßigen Trott dahinritten. Bald lag die Siedlung weit hinter ihnen. Sie erreichten einen nicht von Bäumen gesäumten Weg, der neben einem rauschenden Fluss verlief. Die schäumende Strömung verriet Fidelma, dass es jetzt flussaufwärts in die Berge ging. Wenn sie sich nicht irrte, hatten sie den Monte Pénas links hinter sich gelassen. Doch ganz sicher war sie sich nicht; zwar hatten sie wolkenlosen Himmel, und der Mond stand hoch und schien hell, aber bis Tagesanbruch war es noch lang.
Jetzt hob Suidur die Hand und wies nach vorn. Die Pferde wurden schneller, fielen bald in einen Trab und schließlich in einen Galopp. Fidelma hatte schon zu Pferd gesessen, fast ehe sie laufen konnte, und war eine erfahrene Reiterin. Das Pferd, auf dem sie saß, war gewiss nicht für Feldarbeit oder als Zugtier gezüchtet worden. Sie spürte die gestrafften Muskeln und wie das Tier mit kraftvollen Bewegungen vorwärtsstrebte. Ganz eindeutig hielt es der Reiter im Zaum, damit es nicht in einen ungezügelten Galopp fiel. Es war ein Kriegspferd, eigens für Krieger gezüchtet. So genau konnte sie es im Dunkeln nicht erkennen, vermutete aber, es war von derselben Rasse, die sie zuvor im Tal gesehen hatte.