»Es könnte doch sein, dass der Junge auf Vars gefangen gehalten wird, und Freifrau Gunora wurde bei ihrem Versuch, seine Entführung zu verhindern, getötet.« Der Abt blieb hartnäckig.
»Die eigentliche Frage ist doch aber, was Freifrau Gunora mit dem Jungen oben auf dem Berg suchte?«, gab Fidelma zu bedenken. »Du hast gesagt, sie hätte die Abtei verlassen, weil sie glaubte, auf der Burg von Seigneur Radoald besseren Schutz für sich und den Jungen zu finden. Warum hat sie dann die entgegengesetzte Richtung eingeschlagen und ist den Berg hinaufgestiegen?«
Der Abt und der Ehrwürdige Ionas tauschten einen nervösen Blick, ehe Abt Servillius das Wort ergriff. »Es war, wie ich gesagt habe. Freifrau Gunora wurde von Unruhe erfasst, als Bischof Britmund hier auftauchte und sah, dass sie und der junge Prinz sich bei uns aufhielten. Sie erklärte, sich bei uns nicht sicher zu fühlen und lieber fortzuwollen. Sie bat darum, darüber Schweigen zu bewahren, und verließ noch vor Tagesanbruch mit dem Prinzen die Abtei.«
Bruder Wulfila machte mit einem Hüsteln auf sich aufmerksam. »Selbst mir, als dem Verwalter der Abtei, hat man kein Wort gesagt. Ganz bestimmt hätte ich ihr von ihrem Vorhaben abgeraten. In der Dunkelheit loszuziehen, war eine Torheit.«
»Ich entsinne mich, dass du nach ihr gesucht hast«, bestätigte Fidelma. »Und sie hat keinem sonst gesagt, dass sie gehen würde?«
»Mir schon«, gab der Abt zu. »Ich vertraute mein Wissen dem Ehrwürdigen Ionas an und natürlich auch Bruder Bladulf, dem Torhüter, denn er musste ja ihr Pferd holen und das Tor öffnen. Aber ich schwor ihn auf Geheimhaltung ein und versprach ihm jede Absolution, falls er sich in eine Lüge verstricken müsste, um die Abmachung zu wahren. Folglich gab es nur uns drei, die wussten, dass Freifrau Gunora und der Junge die Abtei verließen.«
»Bruder Bladulf musste das Pferd für sie satteln, sagst du. Heißt das, Freifrau Gunora und der Junge ritten auf nur einem Pferd los?«
»Auf nur einem Pferd, ja«, bestätigte der Abt. »Der Junge saß hinter ihr.«
Fidelma überlegte. »Fakt bleibt, dass ihr Leichnam in völlig entgegengesetzter Richtung gefunden wurde. Wenn sie und der Junge im Widerspruch zu ihrem angeblichen Ziel, der Zuflucht bei Seigneur Radoald, über den Pénas wollten, käme da noch ein anderer Ort in Frage, der ihr vorgeschwebt haben könnte?«
»Nicht, dass ich wüsste.« Der Abt unterstrich seine Antwort mit einem vehementen Kopfschütteln.
»Ich glaube, wir haben allen Grund zu handeln«, versuchte der Ehrwürdige Ionas das Gespräch auf praktische Überlegungen zu lenken. »Du sagst, ihr hättet den Leichnam in eine der Höhlen hinter dem Heiligtum des Columbanus geschafft. Wir müssen also ein paar Brüder losschicken, die Leiche zu bergen. Es geht nicht an, dass Freifrau Gunora unbestattet auf dem Berg dort oben liegt. Auch sollten wir Seigneur Radoald in Kenntnis setzen.«
»Wulfoald und seine Männer haben uns hierher begleitet«, sagte Fidelma. »Er wollte über Nacht in der Siedlung bleiben. Er würde sicher für Geleitschutz sorgen, wenn die Brüder sich aufmachen, den Leichnam der Freifrau zu bergen.«
»Geleitschutz?« Der Abt schien entsetzt. »Glaubst du etwa, Grasulf könnte über die Brüder herfallen?«
»Möglich wäre es.«
»Heute können wir nur noch wenig bewerkstelligen«, befand der Ehrwürdige Ionas. »Wenn ich etwas vorschlagen darf, Vater Abt, so sollten wir Schwester Fidelma und unseren guten scriptor entlassen, damit sie sich frisch machen und ihr abendliches Bad nehmen können, wie es in Hibernia üblich ist. Ein wenig Ruhe danach täte ihnen gut, und dann können sie mit uns gemeinsam zu Abend essen.« Er machte eine Pause und vergewisserte sich mit einem raschen Blick bei Fidelma. »Wir werden Wulfoald bitten dazuzukommen und ihm dabei unser Anliegen vortragen, Bruder Bladulf und einigen Brüdern Geleitschutz zu geben, um den Leichnam heimzuholen.«
Fidelma zögerte. »Wulfoald weiß nicht, dass wir die Leiche gefunden haben.«
»Warum, um Himmels willen, nicht?«, fragte der Ehrwürdige Ionas erstaunt.
Rasches Überlegen war geboten, denn noch wollte Fidelma nichts von ihren Verdachtsmomenten in Bezug auf Wulfoald kundtun. »Bei unseren Abenteuern auf der Flucht von Grasulfs Festung kam eine solche Frage gar nicht auf«, erwiderte sie ausweichend. »Meine Gedanken waren nur auf eine sichere Rückkehr zur Abtei gerichtet.«
»Das ist allzu verständlich«, meinte der Abt. »Doch jetzt müssen es Wulfoald und Seigneur Radoald ohne weiteren Zeitverzug erfahren. Bruder Wulfila wird zur Siedlung gehen und Wulfoald zum Abendessen einladen. Dann können wir ihm die näheren Umstände des tragischen Vorfalls schildern.«
Fidelma war schon im Gehen, als sie noch eine Frage stellte. »Wo ist eigentlich Magister Ado? Ich habe ihn nirgends gesehen. Ich hoffe doch, er ist wohlauf?«
»Magister Ado? Der ist nach Travo gegangen«, erfuhr sie vom Abt. »Er verließ die Abtei, kurz nachdem ihr euch auf den Weg zum Heiligtum auf dem Pénas aufgemacht hattet.«
»Und wo liegt Travo?« Sie glaubte, den Namen schon einmal gehört zu haben.
»Es liegt weiter unten im Tal, mehr nach Placentia hin. Der heilige Antonino hat dort unter Diokletian den Märtyrertod erlitten. Magister Ado verlangte es, eine Opfergabe zu entrichten, denn die Kirche dort hat sich als eine der Ersten in unserem Tal zum Glauben bekannt. Er müsste in ein oder zwei Tagen wieder zurück sein. Deine wohlbehaltene Rückkehr wird ihn freuen.«
Nachdem Fidelma gebadet und die Kleidung gewechselt hatte, fühlte sie sich trotz all der Strapazen ungewöhnlich frisch. Hellwach betrat sie das refectorium. Statt der früher eher argwöhnischen Blicke hatten die Mönche heute ein Lächeln für sie übrig. Auch die kleine Gruppe Nonnen war wieder da, aber Schwester Gisa konnte sie nirgends entdecken. Bruder Faro fehlte ebenfalls. Sie steuerte auf Wulfoald zu, der beim Abt und dem Ehrwürdigen Ionas stand.
Wulfoald war nicht gerade erbaut, sie zu sehen. »Dass ihr den Leichnam von Freifrau Gunora gefunden habt, hättet ihr mir sofort mitteilen müssen. Seigneur Radoald hat das ganze Tal nach ihr absuchen lassen.«
Fidelma wollte ihm darauf antworten, doch Abt Servillius plädierte dafür, erst nach dem Essen darüber zu sprechen. Als alle die Plätze eingenommen hatten, zelebrierte er einen längeren Lobpreis auf Gott, der Fidelmas und Bruder Eolanns Schritte durch alle Gefahren zum guten Ende gelenkt hatte. Er konnte es nicht unterlassen, dem einige herbe Worte über Grasulfs heidnische Götzenverehrung hinzuzufügen.
Nach dem abendlichen Mahl lud Abt Servillius Wulfoald, Fidelma, den Ehrwürdigen Ionas und Bruder Eolann in sein Gemach. Fidelma erläuterte Wulfoald, wo sie die Leiche Gunoras gefunden und wohin sie sie gebettet hatten.
»Hätten wir das früher gewusst, hätte Radoald seinen Wachposten das sinnlose Suchunternehmen ersparen können«, brummte der Krieger. »Wie dem auch sei, wir liegen wohl richtig in der Annahme, dass die unmittelbare Gefahr von Vars kommt.« Er wandte sich an Fidelma: »Weitere Gefangene sind euch während eurer Kerkerhaft auf der Festung nicht aufgefallen?«
»Nein. Wir haben keine anderen Gefangenen gesehen.«
»Das will nicht heißen, dass Prinz Romuald nicht doch dort war«, bemerkte Abt Servillius.
»Das ist richtig«, meinte Fidelma. »Ihr glaubt also, dass höchstwahrscheinlich Grasulf für den Tod von Freifrau Gunora und das Verschwinden des Prinzen verantwortlich ist?«
»Er ist zweifelsfrei die einzige Person, die in Frage kommt. Er stellt für die Sicherheit unserer Täler eine Gefahr dar.« Wulfoalds Stimme klang entschieden.
»Was mich beschäftigt, ist Folgendes: Wenn Freifrau Gunora von hier aufbrach, um Schutz auf Seigneur Radoalds Festung zu suchen, weshalb haben wir ihre Leiche dann in genau entgegengesetzter Richtung oben auf dem Pénas gefunden?« Die gleiche Frage hatte Fidelma schon einmal aufgeworfen, aber keine Antwort darauf bekommen.