»Das könnte mehrere Gründe haben«, erwiderte Wulfoald achselzuckend. »Vielleicht hat man sie gefangen genommen, dort hingebracht und dann erst getötet.«
Zugegebenermaßen war das eine logische Erklärung, sie beeindruckte Fidelma aber wenig.
»Ich werde noch heute Abend einen meiner Männer losschicken, damit er Seigneur Radoald in Kenntnis setzt«, fuhr Wulfoald fort. »Die Gerüchte nehmen zu und klingen bedrohlich. Sollte Perctarit mit einer fränkischen Armee schon tatsächlich nördlich von Mailand stehen, ist äußerste Wachsamkeit geboten. Dann ist er nicht mehr fern.«
Abt Servillius war immer noch mit der für ihn wichtigen Mission beschäftigt. »Was wird mit der Leiche der Freifrau?«
»Bruder Bladulf sollte sich, wie du selbst vorgeschlagen hast, morgen früh mit ein paar Brüdern zum Heiligtum begeben, um sie zu bergen. Ich werde ihm zwei meiner Krieger zum Geleitschutz schicken und einen weiteren zu Seigneur Radoald, um ihm entsprechenden Bericht zu erstatten.«
»Die Spur, der wir nach oben folgten, führte an der Hütte eines Ziegenhirten vorbei, in der eine alte Frau namens Hawisa haust«, erwähnte Fidelma.
»Hawisas Hütte ist mir bekannt«, beteuerte Wulfoald leichthin. Dass Fidelma erstaunt aufblickte, bemerkte er nicht.
Abt Servillius schaute in die Runde. »Wir sind nun hinlänglich über die Sachlage informiert und sollten Fidelma, unserem Gast, nach den aufregenden Erlebnissen etwas Ruhe gönnen. Ebenso Bruder Eolann. Wulfoald wird das, was er für nötig hält, in die Wege leiten.«
Fidelma war die Letzte, die ging. Sie stand schon an der Tür, drehte sich aber noch einmal um und eröffnete dem Abt: »Fast hätte ich es vergessen: Bevor wir neulich aufbrachen, hatte ich ein Gespräch mit Bruder Waldipert.«
»Mit Bruder Waldipert, dem Koch?«, fragte der Abt zurück, ohne recht bei der Sache zu sein.
»Ja, es hat nicht unbedingt etwas mit den anderen ernsteren Dingen zu tun. Es ist mir nur gerade eingefallen, verzeih, wenn ich erst jetzt die Sprache darauf bringe. Ich hatte einmal beiläufig erwähnt, dass ich ein Interesse für alte Münzen hege. Bruder Waldipert sagte, ihm sei vor einiger Zeit eine solche untergekommen, und er hätte sie dir übergeben. Er hätte sie nicht richtig zuordnen und auch ihren Wert nicht einschätzen können.«
»So? Mir gegeben? Das kann nicht sein … Oder doch, ja, das ist schon etliche Wochen her.«
»Er glaubte, man hätte sie hier irgendwo gefunden, sie war auf alle Fälle sehr alt. Ob ich sie mal sehen könnte? Wie gesagt, alte Münzen faszinieren mich.«
Der Abt sah sie groß an und machte eine ablehnende Handbewegung: »Das ist nicht möglich, Schwester Fidelma.«
»Ach nein?«
»Ich gedachte sie sicher aufzubewahren, doch dann war sie plötzlich spurlos verschwunden. Wir haben das Oberste zuunterst gekehrt, haben sie aber nicht finden können. Man möchte ja keinen unserer Brüder verdächtigen, doch ich finde keine andere Erklärung, jemand muss sie mit Vorsatz entwendet haben. Wiederum war es nur eine kleine Münze, zwar aus Gold, aber nicht sonderlich wertvoll. Der Verlust war zu verschmerzen.«
Seinem Tonfall war zu entnehmen, dass er das Gespräch für beendet hielt, also neigte Fidelma den Kopf und ging.
Kaum hatte sie die Tür hinter sich geschlossen, eilte sie durch den menschenleeren Gang auf den Hof. Es war dunkel draußen, nur ein paar Fackeln brannten und warfen unruhige Schatten. Sie erkannte Wulfoald, der noch mit dem Ehrwürdigen Ionas zusammenstand; sie waren gerade im Begriff, sich zu trennen, und Wulfoald schritt bereits zum Tor.
»Wulfoald, einen Moment noch, bitte!«
Er drehte sich um. »Schwester Fidelma. Kann ich irgendwie helfen?«
Sie ging auf ihn zu. »Ich muss dir ein paar Fragen stellen.«
»Fragen, Fidelma? Worum geht es?«
»Du hast die Leiche des Jungen Wamba gefunden, stimmt’s?«
Er kniff leicht die Augen zusammen. Obwohl sie im Halbdunkeln standen, sah sie es genau.
»Wamba?«, wiederholte er. »Was weißt du von Wamba?«
»Er war ein junger Ziegenhirt und liegt jetzt in der Totenstadt der Abtei begraben.«
»Ungefähr eine Woche, bevor du nach Bobium kamst, wurde er dort beerdigt. Wieso beschäftigt dich das?«
»Es wäre einfacher, wenn du erst meine Fragen beantworten würdest, dann weiß ich, ob das alles einen Sinn ergibt, oder ob ich nur Gespenster sehe.«
Wulfoald zuckte gleichgültig mit den Schultern. »Also bitte schön, was willst du wissen?«
»Du bestätigst, seinen Leichnam gefunden zu haben?«
»Ja. Möchtest du die Einzelheiten hören? Ich ritt über die Berge, folgte dem Weg über den Pénas zur Abtei hier. Unterhalb der Felswand neben der Fährte entdeckte ich zufällig die Leiche des Jungen. Offensichtlich war er herabgestürzt und hatte sich das Genick gebrochen.«
»Was geschah, nachdem du den Leichnam entdeckt hattest?«
»Ich kannte den Jungen. Er war Ziegenhirt und lebte bei seiner Mutter Hawisa. Von dort, wo ich ihn gefunden hatte, war es nicht weit bis zu ihrer Hütte. Du hast ja selbst gesagt, dass ihr auf dem Weg zur Bergkapelle bei ihr vorbeigekommen seid.«
Fidelma bewahrte die Fassung und zeigte keinerlei Überraschung. »Du kennst sie, sagst du?«
»Selbstverständlich. In dem Tal hier kennt jeder jeden.«
»Was hast du gemacht? Mit der Leiche von Wamba, meine ich.«
»Ich habe ihn heimgeschafft.«
»Heimgeschafft?«
»Zu seiner Mutter Hawisa.«
»Du hast ihn zu ihr in die Hütte geschafft?«, vergewisserte sich Fidelma noch einmal.
»Wohin hätte ich ihn denn sonst bringen sollen?«, fragte der Krieger verärgert.
Fidelma entschloss sich, ihm das, was sie aus Hawisas Schilderung wusste, nicht länger vorzuenthalten.
»Und wenn ich dir jetzt erzähle, dass Hawisa gesagt hat, du hättest den Leichnam unmittelbar zur Abtei gebracht, und dass, als sie hier ankam, der Junge bereits bestattet worden war?«
Wulfoald sah sie erstaunt an. »Dann kann ich nur feststellen, dass einer von uns dir nicht die Wahrheit gesagt hat«, erwiderte er langsam.
»Warum sollte die alte Frau gelogen haben?«
»Warum sollte ich gelogen haben?«, gab der Krieger scharf zurück.
»Der Gründe gäbe es viele.«
»Frag doch Abt Servillius, wenn du meine Worte anzweifelst.«
»Abt Servillius? Was hat der damit zu schaffen?«
»Er war in Hawisas Hütte, als ich ihr den toten Jungen brachte.«
Jetzt war sie es, die ihn erstaunt ansah. »Was hat der denn dort gemacht?«
»Er hatte Wamba oder Hawisa aufsuchen wollen, um ihnen Auskunft über den Wert einer Münze zu geben, die der Junge gefunden und zur Abtei gebracht hatte. Es muss sich um eine kleine und nicht sehr wertvolle Münze gehandelt haben, die der Junge aber für wertvoll hielt. Gemeinsam haben wir mit Hawisa festgelegt, dass der Junge seine letzte Ruhestätte auf dem Friedhof der Abtei erhalten sollte. Noch am gleichen Abend kamen wir hierher, um ihn zu bestatten. Hawisa blieb unten in der Siedlung bei einem Verwandten.«
Fidelma stand wie versteinert, sie konnte es nicht fassen, mit welcher Selbstverständlichkeit der Mann die Dinge darlegte. »Ich frage noch einmal«, sagte sie schließlich, »weshalb sollte die alte Frau gelogen haben?«
Jetzt begehrte Wulfoald ernstlich auf. »Dafür weiß ich keine Erklärung. Aber es gibt eine Möglichkeit, deine Frage zu beantworten.«
»Nämlich welche?«
»Sie der Person zu stellen, die sie als Einzige beantworten kann.«
»Hawisa?«
»Genau. Wenn meine Männer morgen zu dem Heiligtum aufbrechen, werde ich sie bis zu Hawisas Hütte begleiten. Sie können dann weiterziehen, ich werde jedoch Hawisa zur Rede stellen.«