»Du hast doch nichts dagegen, wenn ich mitkomme?«
»Ich habe nichts anderes erwartet. Aber bist du sicher, dass du dort wieder hinaufwillst, nachdem man dich schon einmal oben entführt hat? Hältst du das für klug?«
»Ob klug oder nicht, ich denke, wir sollten beide die Antwort hören, die Hawisa zu geben hat, da wir beide völlig entgegengesetzte Aussagen über den Tod ihres Jungen haben.«
»Einverstanden. Du hast recht. Wir treffen uns also hier bei Tagesanbruch.«
»In Ordnung. Da wäre nur noch eins, Wulfoald.«
»Wirklich nur noch eins?« Er lächelte schwach.
»Ist dir irgendetwas Verdächtiges aufgefallen, als du Wamba tot aufgefunden hast?«
»Etwas Verdächtiges?« Er blickte sie forschend an, trat einen Schritt näher und versuchte, in ihrem Gesicht zu lesen. »Was willst du damit sagen?«
»Es heißt, Wamba habe irgendwie danebengetreten, den Halt verloren, sei hinabgestürzt und habe sich das Genick gebrochen.«
»Was sonst hätte passiert sein sollen?«
»Ja, was sonst?«, wiederholte sie leise, ließ die Frage aber unbeantwortet.
»Ich weiß nicht, was dir im Kopf herumgeht. Was ich weiß, habe ich dir gesagt. Morgen werden wir versuchen herauszufinden, warum man dir eine Geschichte aufgetischt hat, die völlig im Gegensatz zu dem steht, was sich wirklich zutrug.«
Er drehte sich um und ging raschen Schritts auf die Tore der Abtei zu. Ein Schatten löste sich – sie erkannte Bruder Bladulf –, ein Torflügel schwang auf, und Wulfoald passierte. Fidelma stand noch einen Augenblick da und schaute ihm nachdenklich hinterher. Dann kehrte sie kurz entschlossen zu den Räumen des Abtes zurück, vor denen Bruder Wulfila, der Verwalter, Wache hielt.
»Ich wünsche den Abt zu sprechen«, erklärte sie ihm.
»Er hat sich zur Nacht zurückgezogen und ausdrücklich verlangt, nicht gestört zu werden. Es wundert mich, dass du nach all den Strapazen immer noch auf bist, Prinzessin.«
»Der Abt steht sicherlich früh auf, oder?«
»Im Allgemeinen ja.«
»Dann muss es bis morgen warten.«
Der Verwalter neigte den Kopf. »Vade in pace.«
Draußen warf Fidelma einen raschen Blick nach oben zu den Fenstern des scriptorium. Ein Licht flackerte hinter der einen Scheibe. Zielstrebig ging sie durch die Halle, bog nach links in den kleinen abgeschiedenen Raum und eilte von dort die Stufen zum Turm hoch.
Die Tür zum scriptorium war nicht verschlossen. Sie trat ein und fand Bruder Eolann an seinem Pult, auf der ein Talglicht brannte. Müde schaute er auf.
»Du sitzt noch spät über den Büchern, Bruder Eolann«, sagte sie. »Dabei solltest du nach den Abenteuern, die wir hinter uns haben, längst schlafen.«
»Es gibt viel zu tun, Lady, ich muss die verlorene Zeit wieder wettmachen.«
»Wir haben beide ein wenig Ruhe verdient«, meinte sie.
Bruder Eolann sah sie erwartungsvoll an. »Irgendetwas treibt dich um, Lady. Was ist es?«
»Du entsinnst dich doch noch unserer Unterhaltung mit Hawisa, der Mutter vom kleinen Wamba?«
»Natürlich. Wieso?«, fragte er verwundert.
»Glaubst du, dass sie uns die Wahrheit gesagt hat?«
»Meines Erachtens ja. Weshalb fragst du?«
»Ich wollte herausfinden, warum Wulfoald den Leichnam des Jungen unmittelbar hierher in die Abtei zur Bestattung gebracht hat und nicht erst zu ihr in die Hütte. So und nicht anders hat sie es uns doch erzählt, oder?«
Der Bibliothekar schaute sie verwirrt an. »Ich weiß noch ganz genau, was sie gesagt hat.«
»Nichts liegt mir ferner, als deine Kenntnisse des Langobardischen oder dein Übersetzungsgeschick in Frage zu stellen, doch bist du wirklich davon überzeugt, dass sie uns die Wahrheit erzählt hat?«
»Ich kann nur wiederholen, dass ich keinerlei Zweifel an der Ehrlichkeit ihrer Schilderung hatte.«
»Ich habe vorhin Wulfoald befragt, und er sagt etwas ganz anderes. Er behauptet, den Leichnam des Knaben zu ihrer Hütte geschafft zu haben, aber nicht nur das, er erklärt weiterhin, er hätte dort zu eben dem Zeitpunkt Servillius bei Hawisa angetroffen.«
»Abt Servillius wäre dort gewesen? Das höre ich zum ersten Mal, davon hat sie kein Wort gesagt.« Selbst in dem fahlen Kerzenlicht sah Fidelma, dass Bruder Eolann bleich geworden war. Er schüttelte energisch den Kopf. »Das kann nicht sein, Lady. Einer von beiden lügt, und ich würde sagen, es ist Wulfoald. Die alte Frau hat klar und ohne Umschweife gesprochen. Ich kann da nichts missverstanden haben.«
»Ich dachte es mir.« Ihr Stoßseufzer war nicht zu überhören.
»Wie dem auch sei, es gibt eine Möglichkeit, hinter die Wahrheit zu kommen«, fuhr Bruder Eolann fort. »Frag Abt Servillius, ob er dort war.«
»Er hat sich bereits zur Nachtruhe zurückgezogen. Ich werde ihn morgen früh fragen. Aber ich muss herausbekommen, warum Hawisa uns belogen hat.«
»Wie willst du das aber …«
»Ich habe mit Wulfoald vereinbart, dass wir bei Tagesanbruch zu ihrer Hütte reiten und noch einmal mit ihr sprechen«, fiel sie ihm ins Wort.
»Ist das eine vernünftige Idee? Wenn es nicht Hawisa ist, die gelogen hat, dann war es Wulfoald, und wenn er es getan hat, dann aus gutem Grund – und den wird er wohl für sich behalten wollen.«
»Das ist mir auch schon durch den Kopf gegangen, und genau deshalb musst du mit dabei sein. Ich baue auf dich. Du wirst deine Ohren spitzen und beim Übersetzen sorgsam auf deine Wortwahl achten, damit ich exakt von dem unterrichtet werde, was Hawisa zu Wulfoald sagt.«
Das begeisterte ihn offenbar wenig. »Ist das unbedingt nötig?«
»Ja.«
»Wenn du meinst, dann komme ich mit.«
»Großartig. Dann also bei Tagesanbruch auf dem Hof.«
Als Fidelma durch das Gewölbe ging, das auf den Hof führte, hörte sie Pferdegetrappel. Im Schatten des Kreuzgangs blieb sie stehen und beobachtete, wie zwei Reiter die Abtei verließen. Obwohl sie sie nur von hinten und im schwachen Licht der Fackeln sah, erkannte sie doch, dass es ein Mann und eine Frau waren. Rasch verschwanden sie in der Dunkelheit. Neugierig geworden, näherte sie sich Bruder Bladulf, der die Tore schloss.
»Wer hat da eben die Abtei verlassen?«, fragte sie ihn.
Überrascht drehte sich Bruder Bladulf um. »Ach, du bist es, Schwester …, hm, edle Dame. Das war der Abt.«
Sie sah ihn erstaunt an. »Der Abt hatte sich doch aber zur Nachtruhe zurückgezogen und strikte Anweisung gegeben, nicht gestört zu werden. Und wer war die Frau, die mit ihm ritt?«
»Schwester Gisa. Sie kam, um den Abt zu holen. Ein Notfall«, wie sie sagte.
»Ein Notfall?«
»Der alte Aistulf. Ihm geht es nicht gut, und da wollte Schwester Gisa den Abt holen.«
»Aistulf?«
»Du hast von ihm gehört? Er muss schon früher ein Freund von Abt Servillius gewesen sein, tauchte aber erst vor zwei Jahren in dem Tal hier auf. Er ist Einsiedler, spielt die Muse und scheut jedweden Kontakt mit anderen. Er zieht es vor, in einer Höhle zu schlafen und durch die Wälder zu streifen.«
»Dann muss mit Aistulf etwas Außergewöhnliches passiert sein. Geschieht es oft, dass der Abt mitten in der Nacht aufsteht und unverzüglich seinem Ruf Folge leistet?«
»Nicht oft. Aber es ist schon vorgekommen, dass er eine Nachricht geschickt und der Abt darauf reagiert hat. Diesmal aber war Schwester Gisa in heller Panik, vielleicht ist etwas Ernstliches mit Aistulf«
»Weshalb holt man dann nicht Bruder Hnikar?«
»Bruder Hnikar?« Der Torhüter verzog das Gesicht. »Nicht, dass du mich falsch verstehst. Er ist ein guter Arzt. Aber wenn ich im Sterben läge und Zuspruch brauchte, wäre er der Letzte, nach dem ich schicken würde, von dem würde ich nur eine Predigt zu hören bekommen, was für ein gänzlich anderes Leben ich hätte führen müssen; wenn das letzte Stündlein geschlagen hat, ist sowieso nichts mehr zu ändern.«