Fidelma errötete leicht. »Nein, das nicht«, versicherte sie. »Ich wollte vor allem wissen, warum jemand die Seiten über Caepio aus dem Buch getrennt hat. Bruder Eolann war sehr unglücklich deswegen.«
»Dass die Beschädigung eines Buches ihn sehr gekränkt hat, kann ich durchaus verstehen. Er hätte es gleich melden müssen. Ich kann mir nicht vorstellen, dass der Inhalt an sich für den Täter von Bedeutung war. Ein weit ausführlicherer Bericht über Caepio findet sich in einem anderen Buch, das ich erst kürzlich benutzt habe. Im scriptorium gibt es eine kleine Handschrift mit einer Lebensbeschreibung des Prokonsuls. Bruder Eolann war richtig stolz darauf, denn das ist eine sehr seltene Kopie. Offenbar wurde das Buch im alten Rom von den curules aediles in Acht und Bann getan.«
»Von wem, bitte sehr?«
»Curules aediles? Magistrate, Beamte im alten Rom. Seltsamerweise besitzen wir eine der Abschriften, die der Vernichtung entgingen. Sie ist vielleicht deshalb erhalten geblieben, weil ein Gallier aus Narbona – Pompeius Trogus – sie verfasst hat.«
»Warum mag man die Lebensbeschreibung des Caepio verboten haben? Lag es an dem Thema oder an dem Autor des Werks?«
»Ich könnte mir denken, das geschah, weil Prokonsul Caepio keineswegs eine Zierde der Servilius-Sippe war.«
Fidelma wollte schon gehen, doch bei dem Namen stutzte sie. »Hast du eben Servillius-Sippe gesagt?«
»Servilius war ein Vaters-oder Geschlechtername, ein Patronymikon. Der volle Namen des Prokonsuls lautete Quintus Servilius Caepio. Vita Quinti Servilii Caepionis heißt der Band, solltest du danach suchen. Der Servilius-Clan war eine alteingesessene Patrizierfamilie, schon während der Republik und auch im Kaiserreich stellten sie des Öfteren die Konsuln. Sie sind tatsächlich über sehr viele Jahrhunderte von Einfluss gewesen.«
Fidelma nahm die Münze an sich. »Danke Ehrwürdiger Ionas, dein Schatz an Weisheit war ein Gewinn für mich.« Sie wandte sich zum Gehen.
»Ich würde meinen, die Geschichte, wie sie Trogus erzählt, passt recht gut in die Mythologie der alten Welt«, gab er ihr mit auf den Weg. »Er schreibt sogar, das Gold von Tolosa wurde ursprünglich aus dem heiligen griechischen Tempel von Delphi geraubt. Die Tektosagen waren einer der gallischen Stämme, die gleich nach dem Tod von Alexander dem Großen in Griechenland einfielen. Sie plünderten den Tempel des Orakels und nahmen mit, was ihnen an Gold und Wertgegenständen in die Hände fiel. Je öfter die Geschichte erzählt wurde, desto mehr wurde sie ausgeschmückt. Trogus selbst war ein Gallier und ein guter Geschichtenerzähler. Er kannte viele der örtlichen Sagen, die um die Feldzüge gegen die Gallier entstanden waren. Vielleicht wird dir aus seinem Bericht manches klarer.«
Der Ehrwürdige Ionas beugte sich wieder über seine Handschrift. Draußen vor seiner Studierstube steckte Fidelma die Goldmünze sorgsam in ihren Kammbeutel. Das Patronymikon des Caepio beschäftigte sie weiter. Eine alte Patrizierfamilie, die viele Jahrhunderte überdauert hatte … Es zog sie erneut ins scriptorium. Sie glaubte langsam zu verstehen, wie die Vorfälle zusammenhingen. Bruder Eolann war immer noch nicht da, aber auf seinem Pult brannte eine Lampe, und daneben lag aufgeschlagen ein Buch. Es war das Werk des Pompeius Trogus. Auf dem Titelblatt stand: Vita Quinti Servilii Caepionis.
Verblüfft drehte sie sich um und schaute misstrauisch in die düsteren Ecken der Bibliothek. Wollte sie jemand an der Nase herumführen? Das Buch war doch nicht von selbst und gerade, als sie danach suchen wollte, auf das Pult geraten. Beunruhigt betrachtete sie die Handschrift und begann die Blätter umzuwenden. Plötzlich stockte sie; was sie sah, verschlug ihr fast den Atem.
Der Band war ohnehin nicht umfangreich, doch warum er so schmal war, fiel ihr erst jetzt ins Auge. Einige Blätter waren herausgetrennt worden.
Das sehen und wissen, wen sie zur Rede stellen musste, war eins, doch das konnte sie nicht allein tun. Also wanderte sie zurück zur Studierstube des Ehrwürdigen Ionas. Der blickte erstaunt auf, als sie, ohne anzuklopfen, eintrat und sich hinsetzte. Sie hielt ihm die Handschrift entgegen. Er erkannte sofort die Stelle, an der man Blätter herausgeschnitten hatte, und schaute Fidelma fragend an.
»Mich dünkt, es ist an der Zeit, mit Abt Servillius zu reden.« Sie legte allen Nachdruck auf den Namen des Klosterherrn.
»Abt Servillius?«, fragte der Ehrwürdige Ionas. »Warum denn das?«
»Du hast mir berichtet, Servilius ist ein nomen, ein Geschlechtername. Quintus Servilius Caepio«. Jetzt betonte sie den mittleren Namen.
Der alte Gelehrte schmunzelte. »Ich weiß nicht, was in deinem Kopf vorgeht, meine Tochter. Du beißt dich an der Gleichheit der Namen fest.«
»Wie es der Zufall wollte, bin ich an verschiedene Dinge geraten, die einen Bezug zu diesem sagenhaften Goldschatz des Quintus Servilius Caepio haben. Ich glaube, der kleine Ziegenhirt Wamba wurde ermordet, weil er auf den Fundort stieß oder auf den Zugang dazu. Beides wollte der Mörder geheim halten. Man bekam Wind davon, dass Wamba zu jemandem in der Abtei darüber gesprochen hatte und dass der in der Lage sein könnte, das ganze Drumherum zu enträtseln. Deshalb beschloss der Mörder, soweit es ging, alle Hinweise auszulöschen. Dazu gehörte auch, Blätter aus Handschriften herauszuschneiden, auf denen etwas über die Geschichte des sagenumwobenen Goldschatzes stand.«
»Du meinst die Hinweise auf die Taten des Caepio. Seine Plünderung Tolosas, das Aufspüren der Mengen an Gold und Silber und wie er den Schatz in sein Land verbringen ließ, in dem er Prokonsul und Statthalter war. Dass es ihm gelang, es irgendwo zu verstecken, bevor er in Rom in Ungnade fiel und geächtet wurde.« Der Ehrwürdige Ionas musste geradezu lachen. »Das alles ist doch ziemlich weit hergeholt.«
»Der Mörder ist bestrebt gewesen, jede nur denkbare Spur zu tilgen, die zu Caepios Gold – zum Gold des Servilius führte.«
Der Ehrwürdige Ionas lehnte sich zurück und lachte immer noch vergnügt vor sich hin. »Deine Erklärungen gründen sich darauf, dass die Abstammung unseres Abts sich auf den Servilius-Clan zurückführen lässt. Das dürfte sogar zutreffen. Servillius ist ja stolz darauf, dass er einer alten Patrizierfamilie entstammt, die hier lange ansässig war. Gehst du aber so weit, zu behaupten, er wüsste um den Fundort des Caepio-Goldes und versuchte jeden davon abzuhalten, dahinterzukommen?«
»Oder er, vielleicht auch jemand anders, hat das Versteck entdeckt, dann ist Wamba zufällig darüber gestolpert und …«.
Der alte Mönch riss erschrocken die Augen auf. »Behauptest du allen Ernstes, Abt Servillius hätte Wamba ermordet, um das Geheimnis zu bewahren, wo sich das sagenhafte Aurum Tolosanum befindet? Eine unmögliche Vorstellung! Selbst wenn es existieren sollte, meinem alten Freund Servillius zu unterstellen …«
»… dass er ihn hat ermorden lassen oder ihn selbst getötet hat«, sagte Fidelma unnachgiebig.
Der Ehrwürdige Ionas schwieg eine Weile, aufmerksam erforschte er ihre Gesichtszüge.
»Ich habe längst begriffen, dass du eine sehr kluge Frau bist, Schwester«, sagte er schließlich wie ein Vater, dem es leid tut, ein irregeleitetes Kind strafen zu müssen. »Im Rechtswesen deines Landes bist du ausgebildet, ich weiß auch, dass der verehrungswürdige Gelasius im Lateranpalast große Stücke auf dich hält, wie auch der Heilige Vater selbst, weil du den Mörder von Erzbischof Wighard dingfest gemacht hast. Aber was du da dem armen Servillius zur Last legst, ist einfach nicht hinzunehmen. Ich kenne ihn seit dem Tag, an dem er in die Abtei kam.«