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»Ich erhebe Beschuldigungen gegen jemand nie leichtfertig«, erwiderte sie.

»Dann erzähle mir deine Geschichte von Anfang an und benenne die Beweise für deine Behauptung, danach überlegen wir weiter.«

»Die Geschichte ist ziemlich lang, und sie beginnt mit der Ermordung unseres Bruders Ruadán.«

Noch einmal wurden die Augen des ehrwürdigen Gelehrten ganz groß. »Ermordung?«, brachte er ungläubig heraus.

Langsam und bedacht trug Fidelma ihre Geschichte vor. Allmählich schwanden die Zweifel auf dem Gesicht des Alten und wichen gespannter Aufmerksamkeit. Nicht ein einziges Mal unterbrach er sie. Als sie endete, saß er mit gesenktem Haupt da und schwieg. Dann atmete er tief durch.

»Und all das ist dir widerfahren, du armes Kind, seit du hier in unserer Abtei Bobium bist? Du hättest schon längst zu mir kommen sollen.«

»Wie hätte ich dir vertrauen können?«, wandte Fidelma ein. »Nicht einmal jetzt bin ich sicher, ob ich dir vertrauen kann. Ich weiß nur, dass ich in äußerster Not bin und mich einfach jemandem anvertrauen muss.«

Der alte Klosterbruder schenkte ihr ein freundliches Lächeln. »Mir kannst du vertrauen, meine Tochter. Wir gehen jetzt gemeinsam hinüber und legen Abt Servillius all diese Fragen unmittelbar vor.«

»Er könnte sie von sich weisen«, gab Fidelma zu bedenken.

»Das mag wohl sein. Aber aus dem, wie er einige Aspekte der Vorgänge erklärt, lassen sich Schlüsse ziehen, die zur Aufdeckung der Wahrheit führen.«

»Freilich habe ich keinerlei Berechtigung, einen Abt zu befragen.«

»Das ist mir bewusst. Seit ich das Leben des Columbanus geschrieben und mich oft mit deinen Landsleuten aus Hibernia unterhalten habe, ist mir die Rolle der Brehons in deiner Heimat verständlich. Der Ehrwürdige Gelasius, nomenclator des Heiligen Vaters, hatte dich beauftragt, Ermittlungen zum Tod von Erzbischof Wighard von Canterbury anzustellen. Soviel ich weiß, geschah das über die Köpfe der für Recht und Ordnung im Lateran zuständigen Beamten, sogar über den Kopf des superista der Lateran-Wache hinweg.«

»Das hatte seine politischen Gründe«, erklärte Fidelma, »denn der Erzbischof gehörte einem fremdländischen Volksstamm an, und auch der mutmaßliche Mörder kam aus einem anderen Land – er war einer der frommen Brüder aus Hibernia. Zudem geschah es sehr wohl mit Wissen und Billigung des superista Marinus, des Obersten Befehlshabers der Schutztruppe im Lateran, nicht über seinen Kopf hinweg, wie du eben meintest.«

»Du bist gründlich bis aufs i-Tüpfelchen, wie es sich in deinem Beruf gehört. Und Gründlichkeit ist, was wir hier brauchen. Doch vor allem wollte ich sagen, was der Ehrwürdige Gelasius und der Heilige Vater für gut erachtet haben, sollte auch für uns in der Abtei hier gut genug sein.«

»Du bist sehr freundlich. Aber der Einzige, der in der Abtei wesentliche Entscheidungen treffen kann, ist Abt Servillius selbst. Seine Autorität darf nicht angezweifelt werden, und schon gar nicht, seit ihr die Regula des Benedikt eingeführt habt. Glaubst du, du könntest das Wunder bewirken, dass er mir gestattet, ihm Fragen zu stellen, wenn ich ihn doch beschuldige, eine Zentralfigur bei verübten Morden gewesen zu sein? Ich müsste ihn wegen eines Verbrechens befragen, bei dem er der einzige Tatverdächtige ist.«

Der Ehrwürdige Ionas lehnte sich zurück und gluckste erneut vergnügt. »So habe ich das nicht gemeint, Fidelma.«

»Wie dann? Die Benediktinerregel verlangt, den eigenen Willen völlig zu unterdrücken, und ermahnt jedes Mitglied der Bruderschaft, sich unverzüglich, ohne Widerspruch dem Vorgesetzten, in diesem Falle dem Abt, zur Gänze unterzuordnen, denn nur bedingungsloser Gehorsam sei der erste Schritt zur christlichen Demut.«

Der Ehrwürdige Ionas schüttelte belustigt den Kopf. »Ich weiß, was die Brüder aus Hibernia von unbedingtem Gehorsam halten, doch deine Brüder sagen auch, brich dir nicht das Schienbein an einem Schemel, der gar nicht im Wege steht.«

»Das verstehe ich nicht.«

»Ist doch ganz einfach. Der heilige Columbanus hat immer gesagt, es gibt zwei Arten von Narren, die einen, die nicht gehorchen wollen, und die anderen, die gehorchen, ohne auch nur eine Frage zu stellen. Er hat durchaus bedacht, dass es dazu kommen könnte, dass die Abtei sich von seinen Regeln löst. Er hat nämlich eine Weisung für die Leitung des Klosters bei ungewöhnlichen Umständen hinterlassen, die unsere Äbte nie geändert haben. Die besteht darin, dass die beiden ranghöchsten Geistlichen den Abt zur Rechenschaft ziehen dürfen, wenn er eine fragwürdige Entscheidung getroffen hat.«

»Und diese beiden sind jetzt du und Magister Ado?«

»Gegenwärtig sind wir die beiden ranghöchsten Geistlichen.«

»Das heißt, ihr könntet den Abt zwingen, meine Fragen zu beantworten?«

»Könnten wir. Wir werden nun gehen und mit Abt Servillius reden. Ich werde dich zu meinem Gesprächsführer ernennen. Wenn er nicht gewillt ist, deine Fragen zu beantworten, werden wir warten, bis Magister Ado zurück ist – dann muss er antworten.«

»Ob das gutgeht?«

»Wirst du klare, eindeutige Fragen stellen können?« Er wartete ihre Antwort gar nicht erst ab, sondern bekräftigte: »Natürlich, da bin ich ganz sicher.«

Sie verließen die Studierstube, gingen vorbei am Durchgang zum scriptorium, dann die Treppe hinunter und quer durch die Haupthalle zur Amtsstube des Abts. In der geöffneten Tür versperrte ein Mönch den Zugang. Als sie herankamen, drehte er sich zu ihnen um. Es war der rundliche Koch, Bruder Waldipert. Mit schreckgeweiteten Augen starrte er sie an, er sah kreidebleich aus. Er machte einen Schritt auf sie zu, fast schien es, er würde vor ihren Füßen zusammenbrechen. Doch er hielt sich schwankend, der Mund stand offen, hilflos bewegten sich die Lippen, brachten jedoch keinen Ton heraus.

»Was hast du, Bruder Waldipert?«, fragte ihn der Ehrwürdige Ionas.

Immer noch war der Mann nicht fähig, sich zu äußern, starrte nur an ihnen vorbei ins Leere.

Ärgerlich brummte der Geistliche etwas, schob ihn zur Seite und trat auf die Schwelle zur Abtstube. Weiter kam auch er nicht, blieb wie angewurzelt stehen. Sehr langsam drehte er sich zu dem dicken Koch um. Der zitterte immer noch an allen Gliedern. Einige Brüder gingen eben durch die Haupthalle, einem von ihnen rief der Gelehrte zu: »Lauf und hole Bruder Hnikar, er soll sofort zur Abtstube kommen, jemand … jemand ist verletzt.«

Eilfertig hastete der Mönch davon.

»Was ist passiert?«, fragte Fidelma.

»Abt Servillius ist tot«, sagte der Ehrwürdige Ionas mit bitterem Ernst.

Fidelma drängte sich an ihm vorbei, obwohl er versuchte, sie zurückzuhalten. Doch auch sie verharrte auf der Schwelle, allzu ersichtlich war, warum der der Ehrwürdige Ionas nicht weiter hineingegangen war. Abt Servillius lag unmittelbar vor der Tür hingestreckt auf dem Boden. Der Schädel war ein blutiges Etwas, zertrümmert mit einem schweren Gegenstand. Nur seine Gewänder und das Kruzifix an der Silberkette machten ihn kenntlich. Neben dem Leichnam lag ein großer bronzener Leuchter. Viel Scharfsinn brauchte man nicht, allein die Blutspuren darauf verrieten das Mordwerkzeug. Kein Unfall, ein Mord war geschehen.

KAPITEL 17

»Was ist hier vor sich gegangen? Nun sag doch was!«, beschwor Fidelma den Koch.

Der hatte sich noch nicht wieder gefasst, starrte wie gebannt immer auf denselben Fleck und rang nach Worten. Für Fidelma völlig unerwartet machte der Ehrwürdige Ionas einen Schritt auf ihn zu und versetzte ihm einen Backenstreich. Der Koch wusste nicht, wie ihm geschah, stolperte zurück und fuhr sich mit einer Hand über die rot werdende Wange.

»Ignosce mihi – verzeih, Bruder Waldipert«, sagte der alte Mönch. »Ich sah keine andere Möglichkeit, dich ins Hier und Jetzt zu versetzen, und jeder Moment zählt.«