»Aber abgesehen von der Geschichte mit Caepio und seinem verschwundenen Gold gab es doch nicht viel anderes auf den Seiten zu lesen.«
»Dem Gold von Quintus Servilius Caepio«, verbesserte ihn Fidelma. »Aurum Tolosanum.«
»Ja, und?«
»Das letzte Stichwort hast du mir gegeben – du hast mir erzählt, dass Servilius ein Geschlechtername wäre, und hast weiterhin gesagt, dass der Abt stolz auf seine alten patrizischen Wurzeln in dem Gebiet hier sei.«
Nachdenklich krauste der Ehrwürdige Ionas die Stirn. »Ich hätte dir das entscheidende Stichwort gegeben? Ja, ich erinnere mich, ich habe über den Namen gesprochen …« Er blickte sie argwöhnisch an. »Willst du mir zu verstehen geben, dass ich dich auf eine falsche Fährte gelockt hätte?«
»Die Sache ist viel komplizierter«, erwiderte Fidelma. »Die Person, die hinter dem Ganzen steckt, gäbe einen fabelhaften fidchell Spieler ab.«
»Einen was?«
»Es ist ein Brettspiel, das man in unserem Land spielt, sein Name bedeutet soviel wie ›Ausgeklügelte Spuren auf dem Brett‹. Die Spielweise hat manches gemeinsam mit dem ludus latrunculorum, einem Brettspiel zur Übung in militärischen Taktiken, wie ihr es hier kennt.«
»Du machst es mir trotzdem schwer.«
»Wir haben es mit einem Meisterspieler zu tun, einem Strategen, der die Fäden zieht. Er hat fein säuberlich die einzelnen Schritte vorgegeben und mich in eine Sackgasse geführt. Allerdings hat er damit gerechnet, dass ich länger brauchen würde, mich in dem Irrgarten zurechtzufinden. Als er bemerkte, dass ich über kurz oder lang den Abt zur Rede stellen würde, befürchtete er, dass das für seine Pläne zu früh geschehen könnte, und so musste, wie ich schlussfolgere, Abt Servillius sterben. Ich vermute, man hat ihn gestern kurz nach seiner Rückkehr in die Abtei umgebracht.«
»Das klingt, als wüsstest du, wer dieser Stratege, wie du ihn nennst, ist.«
»Bei uns gibt es die Redensart ›Wehe dem, dessen Verräter mit ihm an einem Tisch sitzt‹.«
Von draußen hörte man erregte Stimmen, und gleich darauf kam Magister Ado hereingestürzt, gefolgt von Bruder Faro.
»Ist es wahr?«, fragte er und blickte besorgt den Ehrwürdigen Ionas an. »Ich bin gerade von Travo zurück und erfahre, Abt Servillius sei tot – wäre ermordet worden.«
»Nachrichten verbreiten sich überraschend schnell«, konnte Fidelma nicht umhin zu bemerken.
Magister Ado reagierte mit ungewohnter Schärfe. »Nicht über die Tore der Abtei hinaus. Ich habe es von Bruder Wulfila. Auf dem ganzen Weg hierher, auf dem ich auch Bruder Faro getroffen habe, ist uns nichts zu Ohren gekommen. Erst hier erschreckte man uns mit der Nachricht. Es ist also wahr?«
»Leider ja, Bruder«, bestätigte der Ehrwürdige Ionas. »Der Abt wurde erschlagen, man hat ihm den Schädel zertrümmert.«
Magister Ado bekreuzigte sich. »Deus adiuvet nos«, murmelte er fromm. »Hat man den Täter gefasst?«
»Bislang nicht.«
»Weiß man, wer die Tat begangen hat?«
»Ich denke, schon«, erwiderte Fidelma. »Und ich fürchte, wir müssen ihm mehrere Tote zuschreiben.«
»Mehrere Tote?«
»Ich glaube, unsere Schwester aus Hibernia spielt unter anderem auf den Tod von Freifrau Gunora an«, klärte ihn der Ehrwürdige Ionas auf.
»Wir durchleben eine böse Zeit, Fidelma«, stellte Magister Ado fest. »Zwischen Grimoald und Perctarit und ihren ehrgeizigen Plänen geben wir den bloßen Spielball ab. Abt Servillius hat Prinz Romuald Zuflucht gewährt, und in dem Moment, da Bischof Britmund dahintergekommen war, dürften es auch die erfahren haben, die den Prinzen nutzen wollten, um seinen Vater zu bekriegen. Ich kann mir durchaus vorstellen, dass man Abt Servillius umgebracht hat, weil er den Knaben unter seinen Schutz gestellt hat.«
»Das glaube ich nicht«, widersprach ihm Fidelma mit ruhiger Stimme.
Die beiden Geistlichen sahen sie erwartungsvoll an.
»Du hast gesagt, du wüsstest, wer der Täter ist und dass er sich in der Abtei aufhielte«, sagte der Ehrwürdige Ionas. »Also sprich.«
Draußen auf dem Hof ertönte ein Wehklagen, zunächst schwach, dann immer lauter, und bald mischten sich andere Schreie darunter, so dass das Ganze einen Chor menschlicher Bedrängnis und Angst ergab. Sie gingen zur Tür, als einer der Brüder, völlig zerzaust und verschmutzt, zu ihnen hineindrängte.
»Der Satan treibt sein Unwesen in der Abtei«, schrie er. »Zu Hilfe! Herr, erlöse uns von dem Übel!«
Die verzweifelten Rufe wurden in Fidelmas Sprache ausgestoßen, und sie erkannte in dem Getriebenen Bruder Lonán, den Gärtner und Kräutersammler. Sie packte ihn am Kragen und rüttelte ihn.
»Komm zu dir, Bruder! Hier gibt es nichts Böses, das dich umtreibt, und wenn, dann ist es von Menschenhand. Was macht dir solche Angst? Sprich. Und sprich in der Sprache des Glaubens, so dass dich alle hier verstehen.«
Der Mann zuckte zusammen, da er so grob und in der ihm vertrauten Sprache angefahren wurde. Er starrte Fidelma an. »Der Tod schleicht durch die Abtei, Schwester. Böses geht um. Der Ort ist verflucht, wir müssen fliehen.« Zittern und Weinen überwältigten ihn.
»Worum geht es?«, drang der Ehrwürdige Ionas in ihn und befahl Bruder Wulfila, der dem Gärtner gefolgt war: »Geh hinaus auf den Hof und sorge dafür, dass die Brüder ihr Wehklagen einstellen.«
Fidelma betrachtete den schluchzenden Mann mit Widerwillen und versuchte dann, ihn aufzurütteln. Das tat sie immer noch in der Sprache ihrer gemeinsamen Heimat. »Nimm dich zusammen, ich sage es ein letztes Mal. Die Regel des Benedikt, die hier gilt, sieht für diejenigen, die sie nicht befolgen, Strafen vor, wenn du nicht auf der Stelle sprichst.«
Bruder Lonán schreckte zurück und sah sie entsetzt an.
»Besinn dich also«, fuhr sie fort. »Denke daran, wo du bist. Sprich in der Sprache deiner Klostergemeinschaft und berichte, was geschehen ist.«
Er schluckte nervös. »Ich … ich war im herbarium«, begann er.
»Es ist bereits dunkel«, unterbrach ihn Magister Ado. »Was hattest du um diese Stunde dort zu suchen?«
»An warmen Sommerabenden gehe ich immer ein wenig im Garten umher. Der Duft der Kräuter und Blumen, die abendliche Stimmung … die haben es mir angetan.«
Magister Ado wehrte verächtlich ab. »Es geht uns hier nicht um persönliche Vorlieben, Bruder Lonán, sondern …«
»Es scheint mir sinnvoller zu erfahren, was ihn in einen solchen Zustand versetzt hat, als ihn zu belehren, was richtig oder unrichtig ist«, mischte sich der Ehrwürdige Ionas tadelnd ein.
Der Gärtner fühlte sich ermutigt und redete weiter. »Der Mond steht rund am Himmel und scheint schon hell. Ich ging den Weg bei den Olivenbäumen entlang, als ich etwas knurren hörte – das Knurren eines Wolfes.«
»Wölfe kommen öfter hier ins Tal, wenn sie auf Futtersuche sind«, stellte Magister Ado fest. »Das ist nichts Ungewöhnliches und noch lange kein Grund, sich zu fürchten und wie ein verängstigtes Kind herumzujammern.«
»In der Nacht herumstreifende Wölfe ängstigen mich nicht, Ehrenwerter Ado«, verteidigte sich Bruder Lonán. »Ich weiß, wie ich mich zu verhalten habe, wenn ich ihnen begegne. Ich habe mit Steinen geworfen und wunderte mich, dass sich das Tier nicht wie sonst verzog. Es schien mich herausfordern zu wollen. Ich zielte mit ein paar größeren Steinen nach ihm und schrie es an, erst dann trollte es sich.«
»Und weiter?«, half Fidelma ein, da Bruder Lonán schwieg.