»Der Wolf hatte sich zwischen den Bäumen zu schaffen gemacht. Ich ging näher. Es war dunkel, und alles lag im Schatten. Doch plötzlich kam der Mond hervor, und sein Licht fiel zwischen die Zweige und beleuchtete die Stelle, wo der Wolf gegraben hatte. Aus der Erde lugte etwas Blasses und Weißes hervor und starrte mich an … Gott stehe mir bei!«
Zutiefst erschrocken rang Magister Ado nach Atem.
»Sag schon, was war es?«, drängte ihn Fidelma.
»Es war das Gesicht von Bruder Eolann.«
Ein wenig später begaben sie sich gemeinsam in den Kräutergarten – es war eine größere Gruppe: der Ehrwürdige Ionas, Magister Ado, Fidelma, Bruder Hnikar, Bruder Wulfila und Bruder Faro, letztere trugen Lampen und Spaten. Allen voran ging Bruder Lonán. Er führte sie an das hintere Ende des Gartens zu einer Gruppe von Olivenbäumen. Dort blieb der Gärtner stehen und hielt sich zurück, während die anderen der Stelle zustrebten, auf die er wies. Durch die Wühlerei des Wolfes war die Leiche zum Teil freigelegt. Der Lampenschein der Männer tanzte auf dem bleichen Gesicht des Bibliothekars.
Der Apotheker beugte sich nieder und untersuchte den Kopf.
»Lange ist er hier noch nicht vergraben. Auch ist die Erde nicht tief ausgehoben, man hat sich des Toten offensichtlich in aller Eile entledigen wollen. Kein Wunder, dass der Wolf ihn ausbuddeln konnte. Aus dem Zustand der Leiche würde ich schließen, dass Bruder Eolann wie der Abt bereits eine Weile tot ist.«
»Hast du schon eine Vorstellung, wie er zu Tode gekommen ist?«, fragte Fidelma.
Bruder Hnikar stand auf, und im flackernden Lampenschein gewann sie den flüchtigen Eindruck, dass er höhnisch grinste.
»Jedenfalls nicht als Folge der Verletzung von heute früh«, sagte er. »Ich muss den Leichnam erst gründlicher untersuchen. Bruder Wulfila und Bruder Lonán, grabt ihn aus und schafft ihn zu mir in die Apotheke.« Er wandte sich an den Ehrwürdigen Ionas und Magister Ado. »Wir müssen hier nicht länger herumstehen. Wir sollten in die Apotheke gehen und dort warten, bis sie den Toten bringen. Dort werde ich dann feststellen, ob der Satan durch die Abtei schleicht und für welche Todesart er eine Vorliebe hat.« Die letzten bissigen Worte galten dem immer noch zitternden Bruder Lonán.
Lange mussten sie in der nach Heilkräutern und Mixturen duftenden Apotheke nicht warten. Bruder Hnikar mochte kein liebenswerter Mensch sein, aber er war ein sachkundiger Apotheker und Arzt. Schon bald stellte er fest: »Er ist an der Wunde da unter dem Herzen gestorben. Man hat sie ihm mit einer Waffe mit breiter Klinge beigebracht, könnte ein Schwert, so etwas wie ein gladius gewesen sein.«
»Ein gladius?«, wiederholte Fidelma.
»Das ist eine kurze Hieb-und Stichwaffe, wie sie die römischen Legionen benutzt haben«, erklärte er. »Einige unserer Krieger schwören auch noch heute auf sie. Wulfoald zum Beispiel hat so eine.«
»Heißt das, dass es eine allgemein übliche Waffe ist?«
»So üblich heute wiederum nicht.« Es war Magister Ado, der ihr antwortete. »Ich glaube, Krieger zu Pferde bevorzugen lange, den Gegner aufschlitzende Schwerter. Die kurzen Schwerter bewähren sich im Nahkampf, aber wenn der Angreifer eine Lanze oder ein langes Schwert hat, ist man mit einem gladius im Nachteil.«
»Du kannst nicht sagen, ob man ihn heute Morgen oder heute Abend umgebracht hat?«, fragte Fidelma den Apotheker.
Er lachte herausfordernd. »Wenn ein Arzt eines Tages in der Lage sein sollte, über den genauen Zeitpunkt Auskunft zu geben, wann jemand starb, dann wird es auch ein Leichtes sein, alle Morde aufzuklären. Dann brauchen wir als Anhaltspunkt nur noch, wann der Betreffende starb, und schnappen uns einfach den, der da gerade bei ihm oder in seiner Nähe war. Doch das ist eine Wunschvorstellung. Als du in die Abtei zurückkehrtest, hatte ich ihn noch kurz zuvor gesehen«, lenkte er ein. »Ich hatte dir das auch gesagt.«
»Demnach muss er bald danach ermordet worden sein«, sagte Fidelma.
Bruder Hnikar zuckte mit den Achseln. »Eingebuddelt hat man ihn erst nach Einbruch der Dunkelheit, so viel kann ich sagen, denn die Erde haftet noch nicht an seiner Kleidung oder Haut.«
»Dann muss er noch in der Abtei gewesen sein, als ich nach ihm suchte«, meinte der Ehrwürdige Ionas. »Aber wo mag er gesteckt haben?«
»Oder versteckt worden sein«, ergänzte Fidelma. Sie hatte eine Weile geschwiegen, weil ihr ein Gedanke keine Ruhe gelassen hatte. Und plötzlich stellte sie Magister Ado die Frage: »War es Bruder Eolanns Vorschlag, dass du dich auf die Reise nach Tolosa begabst, um wegen dieses Buches zu verhandeln … wie hieß es doch? … Das Leben des heiligen Märtyrers Saturnin.«
Magister Ado staunte über ihr gutes Gedächtnis. »Ja. Wieso?«
»Hättest du dich auch von allein auf den Weg gemacht?«
»Sicher nicht. Der scriptor bestand darauf, dass wir den Band in unserer Bibliothek haben müssten, es würde dem Ruf unserer Abtei als großem Zentrum der Gelehrsamkeit äußerst dienlich sein. Und da ich schon zuvor in Tolosa gewesen war, hatte ich das Gefühl, dass ich die am ehesten geeignete Person wäre, die Sache in die Hand zu nehmen. Aber inwiefern tangiert das den Mord am Abt? Was sollten die beiden Todesfälle miteinander zu tun haben?«
»Es handelt sich um sechs Tote«, korrigierte Fidelma ihn behutsam.
»Wie bitte?« Magister Ado war schockiert.
»Sechs Tote«, wiederholte sie, »plus ein Anschlag auf dein Leben und die Verwundung von Bruder Faro. Alle Vorfälle haben miteinander zu tun. Wir können nur hoffen, dass es nicht noch mehr Tote gibt.«
Bruder Wulfila drängte sie zu den vordringlichen Aufgaben. »Ich muss euch daran erinnern, dass es in unserer Abtei Brauch ist, einen Toten zur Mitternacht zu bestatten. Wir müssen Abt Servillius, Hawisa und Bruder Eolann zur letzten Ruhe betten.«
»Richtig«, stimmte ihm der Ehrwürdige Ionas zu. »Falls es keine wesentlichen Einwände gibt, sollten wir unsere Betrachtungen auf später verschieben und Vorbereitungen für die Bestattung unserer Toten treffen.« Er blickte, Einverständnis heischend, zu Magister Ado, und der neigte den Kopf.
»Ich pflichte dir bei, Ehrwürdiger Ionas. Du bist der Älteste hier. Die Bruderschaft wird uns auffordern, einen neuen Abt und Bischof zu wählen, wie es der Brauch verlangt. Lass mich bei dieser Gelegenheit klarstellen, dass ich dich nominieren werde.«
Wohl fühlte sich der Ehrwürdige Ionas bei dieser Eröffnung nicht. »Ich danke dir für das Vertrauen, das du in mich setzt, Magister, doch die Wahl muss den Brüdern überlassen bleiben. Wie auch immer, zunächst gilt es, die Toten zu bestatten. Es ist fürwahr ein schrecklicher Tag für die Abtei.«
Sie gingen zurück über den Hof, auf dem die Fackeln brannten. Fidelma sah deutlich, dass es in dem Ehrwürdigen Ionas arbeitete. Ganz offensichtlich wollte er ihr eine Frage stellen. Als sich die Gruppe auflöste, blieb sie abwartend stehen. Auch er hielt inne und drehte sich zu ihr um.
»Du sagst, es hätte sechs Morde gegeben. Ich zähle nur drei, und die sind schon schlimm genug. Wer sind die anderen?«
»Ich zähle Wamba dazu.«
»Wegen der Münze? Wer noch?«
»Hawisa, seine Mutter. Das Feuer wurde mit Vorsatz gelegt.«
»Und der dritte? Ah, Bruder Ruadán. Bruder Ruadán ist aber an den Verletzungen gestorben, die ihm empörte Anhänger des Arius beigebracht hatten. Er starb über eine Woche später in seinem Bett – du hast ihn ja gesehen.«
Fidelma schüttelte langsam den Kopf. »Man hat ihn in seinem Bett erstickt, und zwar hat es derselbe getan, der die anderen Morde verübt hat.«
»Aber warum?«
Sie lächelte gequält. »Cui bono?«
»Ich verstehe nicht.«
»War das nicht die Frage, die Cicero einem römischen Richter stellte? Wem nützt es? Wenn wir herausfinden, wer von all den Morden profitiert, dann wissen wir auch, wer der Mörder ist.«