Der Ort ähnelt durchaus dem hiesigen, wenngleich er auf einer Insel mitten in einem See liegt, umgeben von Bergen, die in üppiges Grün getaucht sind – Bäume und immergrüne Pflanzen wie Stechpalmen, Ebereschen und Arbutus. Es mag merkwürdig erscheinen, dass er, auf eine Mission nach St. Gallen geschickt, letztlich …« Sie stockte, denn ein Gedanke schoss ihr durch den Kopf, der sie ablenkte und den sie nicht vergessen durfte, »… letztlich aber in Mailand landete, von wo es ihn hierher ins Trebbia-Tal und zu eurer Abtei zog, die Colm Bán vor vielen Jahren gegründet hatte. Es heißt, er war ein guter scriptor, aber er machte einen Fehler. Er hatte einen Eid geleistet, bei uns zu Hause spricht man von einem géis, und er hätte wissen müssen, dass man den nicht ungestraft brechen kann. Hält man sich nicht daran, schlägt das Schicksal unerbittlich zurück. Er hat es mit dem Leben büßen müssen …«
Stammelnd kam sie zum Ende, denn ihr fiel nichts Positives mehr ein, was sie hätte sagen können. Der Ehrwürdige Ionas trat vor und ergänzte ihre Rede. »Und dennoch gibt es einen, der alles weiß, der den Sünder sieht, und selbst, wenn wir armen Sterblichen ihn hier auf Erden nicht stellen können, so wird man ihn in seinem anderen Leben finden und zur Rechenschaft ziehen.«
Dann wurden die sterblichen Reste von Abt Servillius in die Erde gelassen, und der Ehrwürdige Ionas übernahm die Würdigung. In Fidelmas Heimat wäre das die écnaire gewesen, die Fürsprache für die Seele, die Bitte um Ruhe für sie. Die endete mit einem Segensspruch.
»Abt Servillius entstammte einer römischen Patrizierfamilie in Placentia. Seine Vorfahren dienten unserem Land in langer und ehrenvoller Tradition. Er stand dieser Abtei nicht nur als Abt vor, sondern auch als Bischof. Ich selbst war hier, als Servillius das erste Mal durch die Tore unserer Abtei schritt. Das war vor vierzig Jahren, als es noch Brüder gab, die unseren gesegneten Gründer Columbanus gekannt hatten. Ich habe ihnen viel zu verdanken, waren sie es doch, die mich inspirierten, eine Biografie über den großen Mann zu schreiben.
Auch Servillius war in vielerlei Hinsicht ein gesegneter Mann. Als er Abt wurde, machte er sich den Wunsch unseres Gründers zu eigen, unsere Abtei nicht nur als Stätte des Glaubens zu pflegen, sondern auch zu einem Zentrum des Lernens, der Forschung und des Fortschritts zu entwickeln. Er war bemüht, die Abtei nicht in die Hände der Anhänger des Arius fallen zu lassen. Dank meines Amtes konnte ich in Rom vorstellig werden und bewirken, dass man unsere treue Ergebenheit gegenüber dem Heiligen Vater anerkannte und uns die Mitra für unseren Abt als Bischof zugestand. Zuvor hatte ich die gleiche Ehrung für Abt Bobolen erwirken können. Gemeinsam wehrten wir die bösen Absichten der Anhänger des Arianischen Glaubens ab …«
Unversehens hielt er inne und schaute zu Magister Ado. Fidelma entging sein Blick nicht, sie fand ohnehin, dass der gute Mann in seinen Betrachtungen, die doch eigentlich eine Würdigung von Abt Servillius hätten sein sollen, ein wenig zu selbstgefällig geworden war.
»In dem Ringen um den wahren Glauben fanden wir Unterstützung durch Magister Ado, der später zu uns stieß und einer der angesehensten Gelehrten unserer Abtei wurde. Ich – wir werden nicht zulassen, dass unser Abt umsonst sein Leben hingab; wir werden weiterhin alles daransetzen, dass unsere Abtei zu einem Zentrum wird, das man in der gesamten Christenheit wegen seiner Frömmigkeit und Gelehrsamkeit rühmt.«
Als der Leichnam des Abts ins Grab gesenkt wurde, hörten es alle – das Echo widerhallte im ganzen Tal – durchdringende, helle Töne einer Muse, den wehklagenden Aufschrei einer gequälten Seele.
Bestürzung griff um sich. Etliche Brüder hasteten zurück zur Abtei. Trotz der unruhigen Schatten des Laternenlichts konnte Fidelma die blassen, gespenstischen Gesichter von Bruder Hnikar und Bruder Wulfila erkennen. Selbst Bruder Faro starrte erschrocken auf die dunklen Umrisse der Bergeshöhen. Der Einzige, der mit einem vagen Lächeln auf den Lippen dastand, war Odo.
Magister Ado machte den Brüdern, die nur zögernd am Grab ausharrten, sanfte Vorhaltungen. »Habt ihr noch nie zuvor die Muse gehört? Habt ihr noch nie, wenn wir eine Beerdigung hatten, die Sackpfeife spielen gehört?«
Fidelma wandte sich Bruder Faro zu, der mit leicht geneigtem Kopf neben ihr stand und dem traurigen Klang lauschte. Auf seinem Gesicht lag ein seltsamer Ausdruck.
»Allem Anschein nach hat sich Bruder Wulfila geirrt, wenn er glaubte, Abt Servillius und Schwester Gisa hätten sich auf den Weg zum alten Einsiedler gemacht, weil er krank war«, stellte sie in aller Ruhe fest. Dann aber galt ihre Aufmerksamkeit Odo, der sich in ihrer Nähe hielt. »Ich verstehe herzlich wenig von eurem Sackpfeifenspiel. Wer, glaubst du, spielt das Klagelied?«
Ohne auch nur überlegen zu müssen, erwiderte der junge Mann: »Es ist die Trauerweise des Einsiedlers. Niemand anders als Aistulf kann die Muse so spielen.«
KAPITEL 18
Zum ersten Mal in ihrem Leben schob Fidelma, so lautlos es nur ging, einige schwere Gegenstände vor ihre Kammertür. Dann legte sie sich zu Bett und verfiel in einen unruhigen, von Träumen beschwerten Schlaf. Mitten in der Nacht erwachte sie und setzte sich im Dunkeln auf. Die Stirn war schweißnass, der Nacken kalt. »Natürlich«, murmelte sie, als sich ihre Gedanken ordneten. »Natürlich! Wie konnte ich nur so dumm sein? Aber auch so was von dumm!« Irgendwie gelang es ihr, erneut einzuschlummern, doch am Morgen fühlte sie sich wie zerschlagen.
Sie stand auf, wusch sich und überwand ihre Ermattung. Wie gewohnt ging sie, das erste Mahl des Tages mit den Brüdern im refectorium einzunehmen, doch sich auf das Essen zu konzentrieren, wollte ihr nicht recht gelingen. Der Ehrwürdige Ionas sprach die Gebete, Magister Ado saß gedankenverloren neben ihm und stocherte lustlos in seinem Essen. Fidelma schaute sich um, Bruder Faro war nirgends zu sehen. Als sie aus dem Saal ging, fragte sie Bruder Wulfila, wo er sei.
»Er hat die Abtei schon wieder verlassen, er will weiter nach Schwester Gisa suchen«, sagte ihr der Verwalter mürrisch, er schien Faros Abwesenheit zu missbilligen.
Die Glocke ertönte, und jeder begab sich an die ihm zugeteilte Arbeit. Fidelma eilte dem Ehrwürdigen Ionas hinterher.
»Ich muss dringend mit dir sprechen«, begann sie ohne jede Vorrede. »Es handelt sich um eine Sache, die, im Augenblick jedenfalls, strikt unter uns bleiben muss.«
»Bei uns herrscht der Brauch, keine Geheimnisse voreinander zu haben«, tadelte sie der Geistliche.
»Gewisse Mitglieder der Bruderschaft haben diesen Brauch bereits gebrochen. Geheimhaltung ist mehr als angeraten, denn die Abtei schwebt in unmittelbarer Gefahr.«
Er sah sie tiefbesorgt an. »Nach den Todesfällen, die sich hier ereignet haben, fürchte ich das auch. Gestern Abend habe ich den Vorschlag unterbreitet und unterstützt, dass du die Ermittlungen aufnimmst. Darf ich annehmen, du bist bereits zu einem Ergebnis gekommen?«
»Noch nicht ganz«, gab sie zu, »doch ehe der heutige Tag zu Ende geht, werde ich die meisten Antworten, wenn nicht sogar alle, beisammenhaben.«
»Worin besteht das Geheimnis, das du mit mir teilen willst?«
Sie standen auf den Stufen zur Haupthalle, der Innenhof lag vor ihnen. Wachsam ließ Fidelma ihre Blicke umherwandern. »Gibt es einen Weg, auf dem wir in die Nekropole gelangen können, ohne gesehen zu werden?«
Der Ehrwürdige Ionas runzelte die Stirn. »Was sollen wir dort suchen oder finden?«
»Ich bin mir gewiss, es dir dort zeigen zu können. Doch wir dürfen von niemandem beobachtet werden.«
»Etwas Genaueres kannst du mir nicht sagen?«
»Nur so vieclass="underline" Kurz vor seinem Tod hat Bruder Ruadán einen wundersamen Satz gesagt. Ich nahm an, er redet schon irre. Erst jetzt habe ich begriffen, was er meinte. Seine Worte waren: ›Man mag nicht glauben, wie viel Böses ein Mausoleum bergen kann.‹ Ich habe lange gebraucht, bis ich es verstand, weil ich einer falschen Fährte aufgesessen bin.«