Als Ganderbai fertig war, beugte er sich vor und flüsterte dicht an Harrys Ohr: «Es ist jetzt in Ordnung, selbst wenn Sie gebissen werden. Aber bewegen Sie sich nicht. Bitte, bewegen Sie sich nicht. Ich bin sofort zurück.»
Er nahm seine Tasche und verließ das Zimmer. Ich folgte ihm.
«Ist er jetzt immun?», fragte ich.
«Nein.»
«Ja, aber …»
Der kleine indische Arzt stand in der Diele und rieb sich die Unterlippe.
«Gibt ihm das Serum nicht wenigstens einen gewissen Schutz?», erkundigte ich mich.
Ganderbai ging zu der Fliegentür, die auf die Veranda führte. Ich dachte, er würde sie aufstoßen, aber er blieb an der Innenseite der Tür stehen und blickte durch das Drahtgeflecht hinaus in die Nacht.
«Ist das Serum nicht gut?», fragte ich.
«Leider nicht», antwortete er, ohne sich umzudrehen. «Vielleicht kann es ihn retten. Vielleicht auch nicht. Ich überlege gerade, was sich sonst noch tun ließe.»
«Sollen wir das Laken schnell zurückziehen und die Bungar herunterfegen, bevor sie zubeißen kann?»
«Auf keinen Fall! Wir dürfen sein Leben nicht aufs Spiel setzen.» Er sprach in scharfem Ton, und seine Stimme klang ein wenig schrill.
«Wir können ihn aber nicht einfach so liegen lassen», sagte ich. «Seine Nerven halten das nicht aus.»
«Bitte! Bitte!» Er fuhr herum und hob abwehrend die Hände. «Nicht so hastig, bitte. So etwas lässt sich nicht übers Knie brechen.» Er trocknete sich die Stirn mit dem Taschentuch und starrte, an den Lippen nagend, nachdenklich vor sich hin.
«Ja», sagte er schließlich, «es gibt eine Möglichkeit. Wissen Sie, was wir tun werden? Wir werden das Tier narkotisieren.»
Das war eine geniale Idee.
«Ich weiß allerdings nicht, ob es gelingen wird», fügte er hinzu. «Schlangen sind Kaltblüter, und Betäubungsmittel wirken bei ihnen nicht so gut oder jedenfalls nicht so schnell wie bei warmblütigen Lebewesen. Aber es ist unsere einzige Chance. Wir können Äther verwenden … oder Chloroform …» Er sprach langsam und versuchte auf diese Weise, sich über die erforderlichen Maßnahmen klarzuwerden.
«Was schlagen Sie also vor?»
«Chloroform», entschied er. «Gewöhnliches Chloroform. Das ist das Beste. Kommen Sie!» Er zog mich auf die Veranda. «Fahren Sie zu mir nach Hause. Ich rufe inzwischen meinen Boy an. Er wird Ihnen den Giftschrank zeigen. Hier ist der Schlüssel zum Schrank. Nehmen Sie das Chloroform heraus. Die Flasche hat ein hellrotes Etikett, auf dem die Bezeichnung steht. Ich bleibe hier, falls etwas passiert. Los, beeilen Sie sich! Nein, nein, Sie brauchen keine Schuhe.»
Ich fuhr schnell, und nach etwa fünfzehn Minuten war ich mit dem Chloroform zurück. Ganderbai kam aus Harrys Zimmer, als ich ins Haus trat. «Haben Sie’s?», fragte er. «Gut, gut. Ich habe ihm gerade erklärt, was wir vorhaben. Wir müssen jetzt schnell machen. Es ist auf die Dauer nicht leicht für ihn. Ich habe Angst, dass er sich bewegt.»
Er ging ins Schlafzimmer, und ich folgte ihm mit der Flasche, die ich wie eine Kostbarkeit vor mir her trug. Harry lag noch in genau derselben Stellung auf dem Bett. Der Schweiß strömte ihm über die Wangen. Sein Gesicht war weiß und nass. Als er die Augen auf mich richtete, lächelte ich und nickte ihm ermutigend zu. Ich hob den Daumen und machte das Okay-Zeichen. Ganderbai hockte sich neben das Bett. Auf dem Fußboden sah ich den Gummischlauch, den er vorhin als Aderpresse benutzt hatte. Jetzt steckte in dem einen Ende des Schlauches ein kleiner Papiertrichter.
Nun machte sich Ganderbai daran, ein Stückchen Laken unter der Matratze hervorzuziehen, und zwar an einer Stelle, die sich in gleicher Höhe mit Harrys Bauch befand, etwa vierzig Zentimeter davon entfernt. Ich beobachtete, wie seine Finger vorsichtig am Laken zupften. Er arbeitete so langsam, dass ich Mühe hatte, an den Fingern oder dem Laken eine Bewegung wahrzunehmen.
Schließlich hatte er es geschafft: Unter dem Laken wölbte sich eine kleine Öffnung. Er nahm den Gummischlauch und schob ihn behutsam zwischen Matratze und Laken. Ich weiß nicht, wie viel Zeit er brauchte, um den Schlauch bis zu Harrys Körper gleiten zu lassen. Es können zwanzig, es können vierzig Minuten gewesen sein. Kein einziges Mal sah ich, dass der Schlauch sich bewegte. Ich wusste, dass er vordrang, da der sichtbare Teil allmählich kürzer wurde, doch ich war sicher, dass die Bungar nicht die leiseste Erschütterung spürte. Ganderbai schwitzte jetzt auch; große Schweißtropfen standen ihm auf der Stirn und der Oberlippe. Aber seine Hände waren ruhig. Ich bemerkte, dass er nicht auf den Schlauch blickte, sondern auf die Falten, die das Laken über Harrys Bauch warf.
Ohne mich anzusehen, streckte er die Hand nach dem Chloroform aus. Ich entfernte den Glasstöpsel und gab ihm die Flasche in die Hand, ängstlich darauf bedacht, sie nicht eher loszulassen, als bis er sie fest im Griff hatte. Dann bedeutete er mir mit einer Kopfbewegung, näher zu kommen, und flüsterte: «Sagen Sie ihm, dass ich jetzt das Chloroform durch den Schlauch auf die Matratze gieße und es sehr kalt unter seinem Körper werden wird. Damit muss er rechnen. Er darf auf keinen Fall zusammenzucken. Schärfen Sie ihm das ein.»
Ich beugte mich über Harry und teilte ihm mit, was Ganderbai tun wollte.
«Warum macht er nicht weiter?», fragte Harry.
«Er macht ja weiter, Harry. Aber es wird sich sehr kalt anfühlen, bereite dich also darauf vor.»
«Mein Gott, macht weiter, macht doch schon weiter!»
Zum ersten Mal hatte er die Stimme erhoben. Ganderbai blickte auf, sah ihn scharf an und wandte sich dann wieder seiner Arbeit zu.
Er goss ein paar Tropfen Chloroform in den Papiertrichter und wartete, bis sie durch den Schlauch gelaufen waren. Dann goss er einige Tropfen nach und wartete abermals. Der schwere süßliche Geruch des Chloroforms breitete sich im Zimmer aus und weckte unangenehme Erinnerungen an weißgekleidete Schwestern und Ärzte, die in einem weißen Raum um einen langen weißen Tisch standen. Ganderbai goss jetzt schneller nach, und ich sah den schweren Dunst des Chloroforms wie Rauch über dem Papiertrichter wallen. Nach einiger Zeit hielt Ganderbai die Flasche gegen das Licht und entschloss sich, den Trichter noch einmal zu füllen, bevor er sie mir zurückgab. Dann zog er den Gummischlauch langsam unter dem Laken hervor und stand auf.
Offenbar war es eine große Anstrengung für ihn gewesen, den Schlauch vorzuschieben und das Chloroform einzugießen, denn seine Stimme klang matt und erschöpft, als er sich umdrehte und mir zuraunte: «Wir werden eine Viertelstunde warten. Um ganz sicherzugehen.»
Ich beugte mich über Harry. «Wir werden eine Viertelstunde warten, um ganz sicherzugehen. Aber wahrscheinlich ist es schon geschafft.»
«Zum Donnerwetter, warum seht ihr dann nicht nach?» Wieder sprach er laut. Ganderbai fuhr herum. Seine Miene war plötzlich sehr zornig. Er hatte fast schwarze Augen, mit denen er Harry anstarrte. Harrys kleiner Muskel begann wieder zu zucken. Ich nahm mein Taschentuch, trocknete sein nasses Gesicht, und strich ihm beruhigend über die Stirn.
Schweigend warteten wir neben dem Bett. Ganderbai blickte Harry unverwandt und seltsam eindringlich an. Der kleine Inder konzentrierte seine Willenskraft darauf, Harry ruhig zu halten. Er ließ ihn nicht eine Sekunde aus den Augen, und obgleich er keinen Laut von sich gab, schien er dauernd zu rufen: Hören Sie mir zu, Sie müssen mir zuhören, Sie dürfen jetzt nicht alles zunichte machen, hören Sie? Und Harry lag mit zuckendem Mund da und schwitzte. Seine Lider waren meistens geschlossen, und wenn er sie öffnete, sah er entweder mich an oder das Laken oder die Zimmerdecke, aber niemals Ganderbai. Und doch wurde er irgendwie von Ganderbai beherrscht. Der durchdringende Chloroformgeruch ließ ein Gefühl der Übelkeit in mir aufsteigen, aber ich konnte jetzt unmöglich aus dem Zimmer gehen. Mir war, als würde vor meinen Augen ein Ballon aufgeblasen, der immer mehr anschwoll, während ich ihn wie gebannt anstarrte und wartete, dass er zerplatzte.