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Einen Augenblick lauschte Gerhard ins Wohnzimmer hinüber und registrierte erleichtert, dass noch immer kein Laut zu hören war. Das war ein gutes Zeichen, denn es bedeutete, dass Sophie trank. Wenn das Baby die Brust verweigerte, geriet Jule endgültig außer sich. Gerhard verteilte Orangen und Eis auf die Gläser und füllte den verbleibenden Platz mit Selters. Als die fertigen Getränke vor ihm standen, verspürte er plötzlich solchen Durst, dass er beide hinunterstürzte und mit der Zubereitung noch einmal von vorn begann.

In der dritten Semesterwoche war Jule nach dem Gesellschaftsdiagnosen-Seminar auch noch in Gerhards Transparenz-Workshop aufgetaucht, hatte sich für die verspätete Einschreibung entschuldigt und gefragt, ob sie noch teilnehmen könne. Sie kam in seine Sprechstunde, um ein Referatsthema abzustimmen. Sie ging in die gleiche Cafeteria wie er, saß am Nebentisch und grüßte mit einem Nicken.

Bei einem öffentlichen Vortrag des ewigen Münkler entdeckte er sie im Publikum und traf sie anschließend in einer Gruppe wieder, die noch auf einen Absacker gehen wollte. In der Kneipe saß Jule neben ihm und erklärte, dass Münkler nicht nur hoffnungslos überschätzt, sondern ein veritabler Vollidiot sei. Spätestens in diesem Augenblick wusste Gerhard, dass sie die Frau seines Lebens war. Als Jule den Tisch verließ und auf die winzige Tanzfläche ging, verzichtete er darauf, sie zu begleiten und zwischen lauter Studenten gegen seine fünfzig Jahre anzuzappeln. Einer Frau wie Jule musste er nichts beweisen. Er konnte in Frieden sitzen bleiben und zusehen, wie sie sich bewegte, mit geschlossenen Augen und dezenten Gesten, die nicht dazu gedacht waren, einem Publikum zu gefallen.

Sie hatten sich nie als »Professor und Studentin« gefühlt, obwohl sie natürlich genau das waren. Innerhalb des kleinen Universums der Universität bildeten sie einen wandelnden Skandal – der scharfzüngige, etwas kantige, aber immer noch gutaussehende Dozent und die junge, weiche, rothaarige Schöne. Aber darum ging es nicht. Sie hatten im wörtlichen Sinn etwas füreinander übrig. Für Jule war Gerhards Furor ein Mittel gegen die drohende Informationsnarkose des frühen 21. Jahrhunderts. Für Gerhard war Jule der lebende Beweis, dass Begreifen keine Voraussetzung für Lieben darstellte. Gemeinsam konnten sie tun, wovon andere nur träumten: die Dinge hinter sich lassen, statt an ihnen zu verzweifeln. Und eine große Summe von Dingen – das war die Stadt.

Als Gerhard durch einen ehemaligen Kollegen und Hobby-Ornithologen, der regelmäßig zum Beobachten der Kampfläufer in die Unterleutner Heide fuhr, von einer offenen Stelle beim Vogelschutz hörte, hatte er gleich gewusst, dass dies sein letzter Weckruf war. Der Umzug aufs Land stellte kein Problem, sondern die Lösung dar. Auch der Name des Orts, in dem sich die Vogelschutzstation befand, war Programm: Seelenheil. Von Unterleuten fuhr man kaum zehn Minuten mit dem Auto.

Zwei Jahre später hatten die neuen Himbeersträucher im Garten bereits reichlich getragen. An allen vier Hausecken blühten Glyzinien, und Gerhard hatte ein Gemüsebeet angelegt, in dem ein paar Reihen Bohnen, Zwiebeln und Möhren gegen die gärtnerische Ahnungslosigkeit ihrer Besitzer kämpften. Als der Garten begann, einer Ecke des Paradieses zu gleichen, wurde Jule schwanger. Wenn sie abends vor dem Haus saßen, sprachen sie manchmal über die Idee, auch noch das angrenzende Grundstück zu erwerben. Es wurde nur durch einen wackeligen Drahtzaun von ihrem eigenen Garten getrennt und beherbergte einen kleinen, seit langer Zeit leer stehenden Hof, ein würfelförmiges Wohnhaus mit halb verfallenen Nebengebäuden. Das Grundstück besaß wenig Charme, aber Jule mochte den Gedanken, die Gebäude abzureißen und auf diese Weise den Garten zu erweitern. Ein Mensch konnte niemals genug Land besitzen – so viel hatte sie ihre neue Existenz im provinziellen Paralleluniversum bereits gelehrt. Gerhard hatte nichts dagegen. Erst das Baby, dann expandieren, sagte er, und sie lachten.

Jules Bauch wölbte sich schon, als Gerhard eines Abends während der Gartenarbeit sah, wie drüben ein Mann im Hof umherging, Zigaretten rauchte und die Kippen auf den Boden warf. Der Mann war fett, aber nicht schwammig, jede Bewegung verriet, dass sein voluminöser Körper Kraft besaß. Gerhards vorsichtigen Gruß erwiderte er erst nach sekundenlangem dumpfem Starren, als müsste er überlegen, was eine erhobene Hand zu bedeuten hatte. Arme und Rücken waren stark behaart. Zwei Wochen später fuhr ein schäbiger Transporter mit Anhänger vor und kehrte immer wieder zurück, mehrmals täglich, viele Tage hintereinander, auch am Wochenende. Der dicke Kerl lud Unmengen von Schrott aus, den er nach einem unergründlichen System im Hof verteilte. Mehr als knappes Nicken und widerwilliges Knurren war ihm nicht zu entlocken. Gerhard und Jule fragten sich, ob er vielleicht nicht recht bei Sinnen sei. Wenn er nicht gerade seinen Schrott sortierte, saß er auf einer Planke, die quer über zwei Ölfässern lag, trank Bier aus der Dose und sah vor sich hin.

Schon nach wenigen Tagen verlor Jule die Lust, in den Garten zu gehen.

»Der hockt da drüben und starrt mich an«, pflegte sie zu sagen. Auch wenn Gerhard immer wieder versicherte, dass der neue Nachbar keinerlei Interesse an Jule oder Gerhard zeige, dass er gewiss nur ins Leere blicke, vielleicht sogar extrem kurzsichtig sei, hörte Jule nicht auf, sich beobachtet zu fühlen. Umgekehrt war der Anblick des Nachbargrundstücks kaum zu ertragen, er folterte die Sinne wie ein anhaltender schriller Schrei. Ein bizarres Durcheinander aus Wrackteilen, rostigen Ölfässern, Plastikplanen, Schläuchen, Werkzeugen, Kanistern und leeren Bierflaschen. Am Boden in den Schlamm getretenes Gras. Dazwischen erinnerten undefinierbare Kleidungsstücke, vom Regen aufgeweicht und von der Sonne zu Häufchen getrocknet, an totgefahrene Tiere. Draußen entlang der Straße parkte eine Reihe von wechselnden Autos, das eine ohne Kotflügel, das andere ohne Räder, die meisten mit polnischen Kennzeichen. Gelegentlich war auch ein fabrikneuer Audi ohne Zulassung dabei.

Schaller war eine Katastrophe. Er war Gerhards und Jules persönliches Armageddon. Trotzdem glaubte Gerhard, dass es das Beste war, sich möglichst wenig aufzuregen. In den fünfzig Jahren seines Lebens hatte er gelernt, dass Kampf niemals zum Frieden führte. Schaller war ein Schicksal, das man akzeptieren musste, bevor man beginnen konnte, es vorsichtig zu domestizieren.

So weit die Theorie. Die Praxis war schwer zu ertragen.

Im Wohnzimmer begann Sophie wieder zu jammern. Gerhard blieb im Flur stehen, ein Glas Ginger Ale in jeder Hand, schloss die Augen und unterdrückte den Impuls, die Getränke zurück in die Küche zu bringen und das Haus durch die Hintertür zu verlassen. Obwohl er sich für den Rest der Woche frei genommen hatte, um Jule beizustehen, verspürte er unbändige Lust, zur Arbeit zu gehen. Es gab immer etwas zu tun; er konnte die Beobachtungstürme kontrollieren, einen Fachaufsatz über das Brutverhalten der Kampfläufer überarbeiten, Ordnung in die Datenbanken mit den Bestandsinformationen bringen oder überprüfen, ob der Brief mit der Abmahnung an die Pferdezüchter schon zugestellt worden war. Sehnsüchtig dachte er an die Stille seines Büros, an die geöffneten Fenster, an das Klappern der Störche, die den Turm der leer stehenden Kirche anflogen, um drei Jungvögel mit Nahrung zu versorgen. Der Job in Seelenheil, Naturschutzbehörde Plausitz, Unterabteilung Vogelschutz, Außenstelle Unterleutner Heide, hatte sich in jeder Hinsicht als Glücksfall erwiesen. Im Wesentlichen hatte Gerhard 33 Kampfläufer zu betreuen, paläarktische Schnepfenvögel, die in Deutschland bis auf den hiesigen Bestand praktisch ausgestorben waren. Zwar hatte er anfangs keine Ahnung vom Vogelschutz gehabt; dafür war er in zwei Jahrzehnten an einem geisteswissenschaftlichen Lehrstuhl zum Experten im Beantragen von Fördermitteln geworden. Als die neuen Kollegen erkannten, mit welcher Leichtigkeit er EU-Dokumente ausfüllte und Antragsbegründungen formulierte, hatten sie schnell begonnen, ihn zu lieben. Außerdem hatte er unter www.vogelschutzbund-unterleuten.de eine Website ins Leben gerufen und pflegte sie regelmäßig. Vor allem aber traf sich die Berufspraxis auf wundersame Weise mit Gerhards politischen Neigungen. Bauvorhaben in der Region besaßen grundsätzlich naturschutzrechtliche Relevanz. Jede Errichtung einer Biogasanlage, jeder Ausbau einer Straße, die Abholzung von Waldstücken, Planung von Tankstellen, Sportflughäfen oder Schweineställen – alles ging über die Schreibtische der Naturschutzbehörde. Wurde ein Vorhaben nicht offiziell gemeldet, bekam Gerhard auf andere Weise Wind davon und konnte sich einschalten, um das Schlimmste zu verhindern. Im Auftrag der Kampfläufer und der gewaltigen Populationen von ziehenden Gänsen und Kranichen, die zweimal im Jahr in der Unterleutner Heide Station machten, setzte Gerhard der fatalen Fortschritts- und Wachstumsideologie etwas entgegen. Er war stolz darauf, in den ersten drei Jahren als Vogelschützer siebzehn Bauvorhaben verhindert und elf weitere mit einschränkenden Auflagen versehen zu haben. Schallers »Autowerkstatt« hätte er auch dann zur Anzeige gebracht, wenn sie sich nicht auf dem Nachbargrundstück befunden hätte. Leider konnten auch gute Beziehungen zu den Ämtern nichts daran ändern, dass es sich bei Unterleuten um sogenanntes Mischgebiet handelte, das den Betrieb von Kleingewerben erlaubte. Das Naturschutzgebiet begann erst hinter dem Ortsschild. Erst als Schaller begonnen hatte, das Dach seiner Scheune abzudecken, hatte Gerhard ihn drangekriegt.