Als das Baby zu schreien begonnen hatte, war Jule ins Schlafzimmer gegangen und nach dem Stillen zu Gerhard zurückgekommen. Seit Monaten hatte er seine Frau nicht so entspannt erlebt. Sie war keine narkotisierte Mutter mehr. Jeden Gedanken, den er formulierte, erfasste sie sofort und spann ihn weiter. Er genoss es, sie anzusehen. Wie sie nickte, während er sprach. Ihr konzentriertes, vom Schein des Monitors beleuchtetes Gesicht. Fast kam es ihm vor, als wäre sie monatelang verreist gewesen und heute überraschend nach Hause zurückgekehrt. Bei aller Wut über die Pläne des Bürgermeisters – das Zusammensein mit Jule machte ihn glücklich. Es war weit nach Mitternacht, als sie endlich zu Bett gingen.
Jetzt zeigte die Uhr neun am Morgen und das Thermometer im Arbeitszimmer bereits 32 Grad. Die Sehnsucht danach, ein Fenster zu öffnen, fühlte sich an wie Durst. Im Nebenzimmer schrie Sophie, während Jule sie zu stillen versuchte.
Gerhard ging über den Flur ins Wohnzimmer, wo Jule auf der Couch saß und ihn müde anlächelte. Er hatte nicht gefragt, wie viele Stunden sie geschlafen hatte. Er wollte die Antwort nicht hören.
»Ich würde jetzt den Anruf machen. Könntest du Sophie …«
»Ist gut.«
Das Weinen des Babys wurde leiser, während Jule über den Flur ging, die Küche betrat und die Tür hinter sich schloss.
Gerhard setzte sich wieder an den Schreibtisch und nahm das Telefon zur Hand.
Uwe Kaczynski leitete die Naturschutzbehörde in Plausitz. Er war ein kleiner, tonnenförmiger Mann, der nach Kaffee und kaltem Zigarettenrauch roch. Er besaß weder Studium noch Abitur, war fünfzehn Jahre jünger als Gerhard und trotzdem sein Vorgesetzter. So gut es ging verbarg Gerhard seine Schwierigkeiten, Kaczynski ernst zu nehmen. Im Gegenzug behandelte Kaczynski ihn mit ausgesuchtem Respekt, war rund um die Uhr für ihn zu erreichen und begrüßte ihn am Telefon jedes Mal fröhlich mit »Na, Herr Professor«.
»Na, Herr Professor. Was kann ich für Sie tun?«
Die Dorfversammlung vom Vorabend schilderte Gerhard auf eine Weise, als könne es sich nur um einen Irrtum handeln.
Er wollte es Kaczynski leicht machen zu sagen, dass Unterleuten in Wahrheit gar nicht betroffen sei. Dass es die Leute von der Vento Direct eben überall versuchten, in diesem Fall aber ohne Chance. Brandenburg war schließlich groß genug.
Kaczynski hörte schweigend zu, bis Gerhard zu Ende gesprochen hatte. Dann ließ er noch ein paar Sekunden verstreichen, seufzte und setzte zu einem längeren Vortrag an. Plötzlich entbehrte die Professor-Anrede jeden Humors.
Es tue ihm leid, aber Professor Fließ müsse wissen, dass es sich hier nicht um eine kommunale Angelegenheit, sondern letztlich um große Politik handele. Brandenburg habe sich in der Energiestrategie 2020 verpflichtet, die durch Windkraft erzeugte Leistung innerhalb der nächsten zehn Jahre um das Fünffache zu steigern. Ob Professor Fließ sich das vorstellen könne: das Fünffache? Auf zwanzig Prozent des Energiebedarfs! Gleichzeitig werde die Inbetriebnahme des neuen Flughafens in Schönefeld den CO²-Ausstoß beträchtlich erhöhen. Das werde denen die Energiebilanz versauen, sagte Kaczynski, wenn sie sich nicht ranhielten. Der Ministerpräsident habe ausdrücklich klargestellt, dass neue Windparks kämen, ob das den Leuten gefalle oder nicht.
Weil Gerhard einhaken wollte, erhöhte Kaczynski das Sprechtempo.
Dieser Tanz finde auf einem anderen Parkett statt, da seien sie, nämlich Professor Fließ und Kaczynski, mit ihrem Naturschutz nur ein paar Sandkörner unter den Schuhsohlen. Leider sei die Vento Direct keine dahergelaufene Räuberbande, sondern ein offiziell anerkannter Partner des Ministeriums im Rahmen der Energiestrategie. Da wolle er lieber gleich sagen, wie die Aktien in Unterleuten stünden. Nämlich schlecht. Zwar seien die Gemeinden über das Bauplanungsrecht an der Projektierung beteiligt. Nur gehe es dabei nicht mehr um die Frage, ob die Propeller gebaut würden. Sondern nur noch darum, ob sie einen Kilometer weiter links oder rechts zu stehen kämen. Die Vento Direct grase das gesamte Umland ab, die seien schon überall gewesen, um ihre Wunschstandorte vorzustellen. Natürlich rege sich Widerstand. Schließlich wolle jeder Windkraft, nicht wahr, aber bitte nicht vor der eigenen Haustür.
Gerhard wollte protestieren, aber Kaczynski redete einfach über ihn hinweg.
Ein Satz noch, um die Sache zu Ende zu bringen, das sei vielleicht auch für Professor Fließ interessant. Deren Strategie bestehe in Schnelligkeit. Die Planung werde mit einem Affenzahn durch die Gemeinderäte gepeitscht, bevor die Leute richtig aufwachten. Viele Dörfer versuchten, sich zu wehren. Aber die meisten würden verlieren. So sei das eben.
»Und wer gewinnt?«, fragte Gerhard.
»Der Stärkere«, sagte Kaczynski.
Nachdem das Gespräch beendet war, ließ Gerhard das Telefon fallen wie einen schmutzigen Gegenstand. Der Deckel vom Akkufach sprang ab und rutschte klappernd über den Tisch. Er ging zu Jule in die Küche, stützte die Hände auf die Fensterbank und sah hinaus. Die aufgeklappte Allee lag friedlich in der Morgensonne. Sanft stiegen die Felder zum Waldrand hinauf. Weil Gombrowskis Bio-Betrieb keinen Unkrautvertilger verwendete, war die gelbe Fläche des Weizens bepudert vom Rot und Blau der Mohn- und Kornblumen. Gerhard versuchte, die Windräder zu sehen, zehn an der Zahl. Es gelang ihm nicht. Er schlug eine Faust auf das Fensterbrett.
»Was hat Kaczynski gesagt?«, fragte Jule.
»Den haben sie gekauft«, antwortete Gerhard.
14 Schaller
»He, Schaller. Kannst du dich an mich erinnern?«
Zwei Jahre nach dem Unfall geschah es immer noch, dass Menschen oder Dinge aus der Vergangenheit plötzlich an die Oberfläche seines Bewusstseins drangen, ein wahres Störfeuer verursachten und wieder verschwanden, wenn er sie zu begreifen versuchte. Er hatte festgestellt, dass es kaum eine Rolle spielte, ob er sich tatsächlich erinnerte. Die meisten Menschen waren so einfach gestrickt, dass ein Blick genügte, um das Wichtigste über sie zu wissen.
Der magere Rothaarige mit der körnigen Haut zum Beispiel war ein kleiner Gauner, der sich für clever hielt, wenn es ihm gelang, andere Menschen über den Tisch zu ziehen. Schaller hoffte, dass er in seinem früheren Leben vernünftig genug gewesen war, mit dieser Pfeife nicht zusammenzuarbeiten. Vermutlich war der Kerl ein Handlanger des Russen. Mit seinem quadratköpfigen Kumpel, der gerade vom Beifahrersitz des Transporters sprang, verständigte er sich durch Handzeichen und ein paar Brocken slawischen Kauderwelschs.
Schaller musste sich nicht erheben, um zu erkennen, dass es sich bei den Eisenteilen, die der Pritschenwagen geladen hatte, nicht um seine Hebebühne, sondern um einen Haufen Altmetall handelte. Mit baumelnden Beinen saß er auf der Bank und sah zu, wie Rothaariger und Quadratkopf auf die Ladefläche ihres Fahrzeugs kletterten und begannen, den Schrott mit großem Radau in den Hof zu werfen. Schaller blieb sitzen. Auch das hatte ihn sein gebrochenes Genick gelehrt: Viele Probleme erledigten sich von selbst, wenn man nicht aufstand. Die nächste Metallplatte fiel mit ohrenbetäubendem Scheppern in den Hof. Den Wert des Altmetalls schätzte Schaller auf dreihundert Euro. Der Russe ließ sich sein Statement etwas kosten. Es ging nicht nur darum, dass sie die gestohlene Hebebühne nicht zurückgeben wollten. Sie wollten zeigen, was für Schwergewichte sie waren. Eine Episode, die sie beim Bier im Landmann zum Besten geben konnten. Wie sie dem Schaller, der glaubte, einfach so ins Geschäft wiedereinsteigen zu können, einen Haufen Schrott in den Hof geworfen hatten.
»He, Schaller«, rief der Rothaarige. »Ich hab gehört, dass deine Birne jetzt wieder einigermaßen funktioniert. Weißt du dann auch noch, was Autotausch ist?«