Die Idee war ihr gekommen, während Gerhard von seinem Scheitern bei Kaczynski berichtete. Frustriert hatte er am Küchenfenster gestanden und nicht weitergewusst. Mit einem Mal hatte Jule begriffen, dass sie gar nicht zu Hause herumsitzen und darauf warten musste, was ihr das Schicksal als Nächstes antun würde. Sie war keine Gefangene des Tiers von nebenan. Sie konnte sich Sophie vor den Bauch binden und gehen, wohin sie wollte. Im Gegensatz zu Gerhard arbeitete sie nicht bei einer Behörde und unterlag keinen Einschränkungen in Bezug auf politisches Engagement. Und sie hatte eine Verpflichtung gegenüber dem Dorf, das spürte sie jetzt deutlich. Seit ihrem Umzug hierher genoss sie das Gefühl, von einer langwierigen Krankheit genesen zu sein. Sie war der uneigentlichen Welt entkommen. Das Dorf war ein Lebensraum, den sie überblickte und verstand. Die Unterleutner lasen keine Zeitungen, sahen wenig fern, benutzten das Internet nicht. Dass sie alle vier Jahre ihren Arne zum Bürgermeister wählten, war Ehrensache; den Namen des Bundespräsidenten kannten sie vermutlich nicht. Die Politik interessierte sich nicht die Bohne für Unterleuten – warum sollte sich Unterleuten für Politik interessieren? Im Dorf gab es keine Geschäfte, keinen Arzt, keinen Pfarrer, keine Post, keine Apotheke, keine Schule, keinen Bahnhof – es gab nicht einmal Kanalisation. Es gab den »Märkischen Landmann«, an dessen Außenwand ein Briefkasten neben einem Zigarettenautomaten hing. Einige Kilometer außerhalb des Dorfs befand sich ein Horizontalfilterbrunnen, auf den der Bürgermeister unendlich stolz war, weil er die Gemeinde von der Trinkwasserversorgung des Zweckverbands unabhängig machte. Ein weiterer Schritt, der Unterleuten von aller Staatlichkeit entfernte. In den Gärten wuchs Gemüse, nicht, weil sich ein paar Öko-Aussteiger im nachhaltigen Ackerbau übten, sondern weil man den Keller vor dem Winter mit Kartoffeln füllen musste. Wer keinen Kartoffelkeller besaß, züchtete Hühner oder mästete Enten, konnte Stromleitungen verlegen, wusste, wie man billig an Dachziegel herankam oder fuhr alle zwei Wochen zum Zigarettenholen nach Polen. Tagsüber arbeiteten die Leute in Gombrowskis Ökologica oder schuppten Fische in einer Plausitzer Touristenküche. Abends speisten sie Waren und Dienstleistungen in die Tauschgesellschaft ein. Weil niemand Geld hatte, war wenig davon im Umlauf. Man tapezierte bei Silke und Sabine das Wohnzimmer und nahm dafür eine fette Gans mit nach Hause. Aufgeschrieben wurde nichts. Unterleutner besaßen einen sechsten Sinn dafür, wer wem einen Gefallen schuldete. Es war wichtig, nicht zu weit in Rückstand zu geraten.
Vor Sophies Geburt hatten Jule und Gerhard halbe Nächte damit verbracht, über das Unterleutner Soziotop zu reden. Über das Phänomen der Tauschgesellschaft konnten sie sich begeistern wie Naturforscher, die unverhofft einen neuen Käfer entdeckt hatten. Wenn Jule allerdings ihren Berliner Freunden davon erzählte, schüttelten diese ungläubig die Köpfe. Sie konnten nicht glauben, dass es in Deutschland Menschen gab, für die das Anbauen von Gemüse kein Hobby war. Was Jule erzählte, klang für sie nach Weißrussland oder Kasachstan. Wenn sie dann noch behauptete, dass sich ihre Nachbarn selbst gar nicht als arm bezeichnen würden; dass sie, im Gegenteil, zufriedener wirkten als manch ein Bewohner des Prenzlauer Bergs; dass sie die Abende nicht biertrinkend vor dem Fernseher, sondern mit Gartenarbeit, Nachbarschaftshilfe oder Informationsaustausch am Gartenzaun verbrachten, weil die Tauschgesellschaft sie ständig auf Trab hielt, runzelten die Freunde misstrauisch die Stirn. Spätestens wenn Jule den Gartenzaun scherzhaft das Dorf-Internet nannte und von »Fencebook-Profilen« sprach, stiegen die Zuhörer aus. Sie warfen ihr Sozialromantik vor und dass sie ihre Zivilisationsflucht hinter Provinzverklärung verberge.
Die Verabredungen wurden seltener. Die Berliner Freunde hatten wenig Zeit für Landbesuche, und Jule fing an, die Stadt als Vergangenheit zu betrachten. Unterleuten war ihr neues Leben, die Erde, auf der sie mit beiden Beinen stand.
Alles das galt es nun zu verteidigen. Die Zeit drängte. Jule musste loslegen, bevor die Strippenzieher anfingen, Unterleuten das Gehirn zu waschen. Das hatte sie Gerhard erklärt und sich über seine Verwunderung gefreut. Er hatte sie in den Arm genommen und gesagt, wie stolz er auf sie sei. Dann hatten sie sofort begonnen, die Einzelheiten zu klären. Trotz des Gestanks hatte Jule ihn zum Auto begleitet und die Feuer an der Grundstücksgrenze keines Blickes gewürdigt. Noch durchs offene Fahrerfenster hatte Gerhard letzte Anweisungen erteilt und dabei ihre Hand gehalten.
»Schaffst du das?«, hatte er gefragt. »Auch mit Sophie?«
Und ob sie das schaffte. 122 Haushalte gab es in Unterleuten, an zwanzig Türen hatte sie bereits geklingelt. Unter dem Arm trug sie ein Klemmbrett mit einer Unterschriftenliste, die sie selbst am Computer erstellt hatte. »Gegen Windkraft in Unterleuten« stand in großen Buchstaben am oberen Rand, darunter eine Tabelle, in der sich bereits elf Unterschriften befanden, jeweils mit vollständiger Adresse der Unterzeichner. Neun Familien waren nicht zu Hause gewesen, da konnte sie es am Abend noch einmal versuchen. Niemand hatte sie weggeschickt. Natürlich nicht. Auch die anderen sahen, was Jule selbst spürte. Sie war eine Ikone des Gemeinschaftssinns. Eine junge Mutter, die ihren Säugling mit auf die Straße nahm, um sich politisch zu engagieren. Ein älterer Mann hatte ihre Hand genommen und ihr gedankt. Dass es noch Menschen gibt, die sich wehren! Eine nette Frau wie Sie! Dabei sind Sie gar nicht von hier.
Jule verstand nicht mehr, was in letzter Zeit mit ihr los gewesen war. Jetzt war der Knoten geplatzt. Sie wusste wieder, dass Unterleuten tatsächlich existierte. Nicht irgendwo, sondern direkt vor der Tür, als ihr persönlicher Lebensraum. Als der Ort, an dem Sophie groß werden sollte. Ebenso wirklich wie das Dorf war die Bedrohung des Dorfs durch die Pläne einer sich selbst subventionierenden Gutmenschenbürokratie. Es würde schwierig werden, sich dagegen zu wehren. Seit die Wirtschaft gelernt hatte, die Sprache der Moral zu sprechen, lag das politische Engagement im Koma. Das hatte sie heute Morgen zu Gerhard gesagt, woraufhin er ihr Gesicht in beide Hände genommen und sie auf die Stirn geküsst hatte.
Jule passierte die Mauer des Märkischen Landmann und dachte an die blonde Frau, die gestern dem alten Krawallbruder seine Grenzen gezeigt hatte. Mutig war sie gewesen, hoch aufgerichtet und förmlich bebend von einem kompromisslosen Willen. Diese Linda war nicht älter als Jule selbst, eher ein paar Jahre jünger. Trotzdem schien das Material, aus dem man sie hergestellt hatte, aus einer anderen Kiste zu stammen. Wäre Jule ein Mann gewesen, hätte sie sich in diese Frau verliebt. Nicht das Gespräch mit Gerhard, sondern Lindas Anblick hatte sie aus ihrer geistigen Umnachtung gerissen. Linda stand am Tor zur Welt und machte eine einladende Geste, und Jule freute sich jetzt schon darauf, mit ihrer Unterschriftenliste in die Villa Kunterbunt zu gehen.
Aber erst einmal war das Haus mit dem blauen Dach an der Reihe. Die Sonne brachte die glasierten Dachziegel zum Leuchten und ließ sie aussehen wie aus buntem Plastik gemacht. Es war nicht nur das größte, sondern auch das scheußlichste Gebäude im ganzen Beutelweg.
Im Lauf des Vormittags hatte Jule ein Spiel daraus gemacht, anhand der Außenansicht eines Hauses zu erraten, ob man ihr Bier, Zigaretten, Kaffee oder Bromfelder anbieten würde. Die meisten Treffer erzielte sie, wenn sie auf Bromfelder tippte, aber das Haus mit dem blauen Dach war eindeutig ein Kaffee-Haus. Es thronte auf einem weitläufigen Grundstück. Mehrere Rasensprenger vereinten ihr rhythmisches Zischen zu einem melancholischen Lied; wo sie nicht hinreichten, war das sauber gestutzte Gras von der Hitze gelb verfärbt. Zwei Gipslöwen bewachten die Treppe zur Eingangstür. Eine Klingel gab es außerhalb des Zauns nicht. Als Jule gerade das Gartentor öffnen wollte, hörte sie ein Geräusch auf dem Nachbargrundstück und hielt inne. Nebenan ging die Tür auf, ein Mann trat aus dem kleinen Häuschen. Ein paar Rosen flogen an seinem Kopf vorbei, dann fiel die Tür ins Schloss.