Ein Moment der Stille. Langsam drehte sich der Mann zu Jule um, als hätte er schon gewusst, dass sie dort stand und die Szene beobachtete. Es war der Alte, mit dem Linda am Vorabend aneinandergeraten war. Sein Name fiel Jule nicht ein. Obwohl sie schon zwei Jahre in Unterleuten lebte, kannte sie wenig Leute. Oma Rüdiger und Opa Margot sowie Arne, den Bürgermeister. Kathrin, von der Jule zunächst geglaubt hatte, dass sie Arnes Tochter, dann, dass sie seine Geliebte sei, bis sie begriff, dass es sich nur um Nachbarschaft handelte.
»Was machst du da?«, fragte der Alte.
Die Frage traf Jule unvorbereitet. Sie war noch bei der Überlegung, ob sie den Mann grüßen sollte oder nicht.
»Unterschriften sammeln«, sagte sie schließlich.
»Was?«
»Gegen Windkraft.«
»Was?«
»Wollen Sie vielleicht unterschreiben?«
»Was?«
Sie überlegte, ob er nicht ganz richtig im Kopf war. Oder vielleicht schlecht hörte. Er verließ das Nachbargrundstück und kam zu ihr auf die Straße.
»Zeig her.«
Ein paar Meter vor ihr blieb er stehen und streckte die Hand aus, so dass sie zu ihm gehen musste, um ihm die Liste zu geben. Mit schnellem Blick überflog er Überschrift und Namen.
»Hat sich jemand geweigert?«
»Ein paar waren nicht zu Hause.«
»Ob sich jemand geweigert hat!«
»Bis jetzt nicht.«
Der Alte nickte und gab ihr das Klemmbrett zurück.
»Unterschreiben Sie jetzt? Die Windkraftanlagen bedrohen nicht nur die landschaftliche Schönheit der Region, sondern auch …«
»Schätzchen.« Der Alte streckte die Hand aus und tätschelte Jules Wange. »Das Einzige, was ich in diesem Leben noch unterschreiben werde, ist mein Testament.«
Plötzlich hielt er inne und sog Luft durch die Nase.
»Du stinkst«, sagte er. »Nach verbranntem Gummi.«
Jule spürte, wie sie rot anlief.
»Das liegt an …«
Der Alte griff ihr ins Haar und roch an einer Strähne.
»Bei Schaller steigt seit ein paar Tagen Rauch auf«, sagte der Alte.
»Wir wohnen nebenan«, erwiderte Jule vorsichtig.
»Der räuchert euch ein?«
Jule antwortete nicht. Noch einmal roch der Alte an ihrem Haar, ohne dass sie sich gewehrt hätte. Seine Dreistigkeit machte sie hilflos.
»Interessant«, sagte er. »Sehr interessant.«
Damit drehte er sich um und hinkte den Beutelweg hinauf Richtung Wald.
Jule sah ihm eine Weile nach, bevor sie sich wieder dem Haus mit dem blauen Dach zuwandte. Sie trat durchs Gartentor und stieg die Stufen zur Eingangstür hinauf. Als sie die Klingel drückte, schlug drinnen ein Hund an. Fast alle Dörfler besaßen Hunde, die an den Zäunen entlangrannten, wenn sie nicht in Zwingern eingesperrt waren. Bei Nacht stimmten die Köter wahre Wolfskonzerte an. Mit einer Einzelstimme nahm das Geheul seinen Anfang und breitete sich aus, bis das ganze Dorf im Mondlicht tönte wie ein unheimliches Rieseninstrument. Jule hatte sich oft gefragt, wie es den Leuten gelang, von ihren eigenen Hunden nicht genervt zu sein. Was sie bislang noch nicht gesehen hatte, war ein Hund, der im Haus lebte. Schon gar nicht so ein Riesentier. Durch das Türfenster konnte sie verfolgen, wie der Hund mit langen Sätzen den Flur herunterkam. Er war so groß, dass seine Bewegungen wie Zeitlupe wirkten. Er bremste und schlitterte den letzten Meter bis zur Tür, wo er sich auf die Hinterbeine stellte und die Pranken gegen die Scheibe stemmte. So standen sie Auge in Auge, gleich groß, getrennt durch das Glas. Jule hatte Hunde nie besonders gemocht. Seit Sophie auf der Welt war, vertrat sie die Auffassung, dass diese überflüssigen Monster verboten gehörten.
»Fidi, aus!«
Eine etwa sechzigjährige Frau mit kurzen grauen Haaren und biederem Rock packte den Hund am Halsband, zerrte ihn mit ganzer Kraft von der Haustür weg und schob ihn in eins der angrenzenden Zimmer. Erst dann öffnete sie die Tür.
»Entschuldigung«, sagte die Frau. »Der Hund gehört meinem Mann.« Sie sandte ein schüchternes Lächeln aus, als wäre sie auf der Suche nach einer Verbündeten. »Wie kann ich Ihnen helfen?«
»Ich bin Jule Fließ. Ich sammele Unterschriften gegen den Bau von Windkraftanlagen in Unterleuten.«
Die Frau reagierte nicht. Ihr Blick wanderte zwischen Jules Augen hin und her, als suchte sie Antwort auf eine Frage. Vielleicht hatte sie nicht verstanden, worum es ging.
»Das Kapital unserer infrastrukturell schwachen Region liegt in den Naturschönheiten, in der Unberührtheit der Landschaft und im reichen Artenbestand. Deshalb wäre es ein unverzeihlicher Fehler …«
Jule verstummte. Das Gesicht der Frau hatte einen gehetzten Ausdruck angenommen.
»Was ist denn in Sie gefahren?«, fragte sie. »Wenn der Hund da ist, ist auch mein Mann zu Hause.«
Darauf fiel Jule keine Erwiderung ein. Sie wippte ein wenig auf den Fersen, um die schlafende Sophie zu schaukeln. Die Rasensprenger brachten die nächste Umdrehung hinter sich, ein kühler Luftzug war zu spüren, wenn das Wasser in die Nähe kam. Die Frau blickte über die Schulter in den Flur. Sie schien vor irgendetwas Angst zu haben. Gerhard hatte mehrmals betont, dass es bei solchen Aktionen vor allem darauf ankam, sich nicht abwimmeln zu lassen.
»Außerdem wird der Wert unserer Grundstücke sinken«, versuchte Jule es noch einmal. »Das ist Enteignung.«
»Gehen Sie jetzt bitte. Sofort.« Die Frau sprach schnell und leise. »Sie kommen von außerhalb. Sie wissen gar nicht, wo Sie sind.«
Dann schlug die Tür zu.
17 Meiler
Eigentlich hatte er schon beschlossen gehabt, dem Drecknest für immer den Rücken zu kehren, den albernen Namen »Unterleuten« zu vergessen und den gestrigen Tag aus dem Gedächtnis zu streichen. Selbst die Lust darauf, die ganze Bande zu verklagen, war mit dem Verrauchen des Ärgers auf null gesunken.
Aber dann war sein Mittagstermin in Berlin überraschend geplatzt, und die nächste Verabredung stand erst für 15 Uhr im Kalender. Konrad Meiler saß am Rand eines Abgrunds aus unverplanten Stunden. Freizeit hasste er fast ebenso sehr wie Zeitverschwendung. Eine Weile saß er auf der Kante des Hotelbetts und starrte ins Leere. Dann holte er, einem spontanen Impuls folgend, das Handy hervor und rief Mizzie an.
In der Regel musste er es mehrmals versuchen, wenn er sie persönlich erreichen wollte. Oft begnügte er sich mit der Mailbox, sprach aufs Band, wie es ihm ging und was er in letzter Zeit gemacht hatte, oder erzählte einfach nur, was er sah, wenn er aus dem Fenster schaute. Auch jetzt war er auf einen Monolog eingestellt und erschrak, als sich Mizzies Stimme meldete.
»Hallo, Konrad«, sagte sie freundlich. »Wie geht es dir?«
Auf die Schnelle fiel ihm kein sinnvoller Anfang ein. »Mizzie, wie findest du Windräder?«, fragte er schließlich.
Es entstand eine Pause. Im Hintergrund hörte er die Lautsprecheransagen des Münchner Hauptbahnhofs.
»Diese kleinen, die man in der Hand hält und pustet? Die hat Philipp geliebt, als er ein Kind war.«
»Ich meine die großen. Mit denen man Windenergie erzeugt.«
»Ach so.« Mizzie schien zu überlegen. »Die erinnern mich an die kleinen. Ich denke, die großen mag ich auch.«
»Willst du einen Windpark?«
»Wie bitte?«
»Ob du dir einen eigenen Windpark wünschst.«
»Warum nicht.« Mizzie lachte. »Bist du betrunken?«
»Noch nicht.« Auch Meiler lachte. Eine weitere Pause entstand. »Ist Philipp bei dir?«
»Wir sind verabredet.« Mizzies Stimme war die Freude über Meilers Frage anzuhören. Normalerweise vermied er es peinlich, sich nach seinem Sohn zu erkundigen.