»Wie geht es ihm?«
»Oh, zurzeit richtig gut. Wir suchen gerade eine Wohnung für ihn. Vielleicht kann ich ihn auch überreden, es noch einmal in Grafrath zu versuchen. Ich bin ganz optimistisch, dass wir bis Ende September …«
»In Ordnung, Mizzie«, sagte Meiler.
Grafrath war eine Fachklinik für Suchtkranke, in der Philipp bereits mehrere Entzugsversuche hinter sich gebracht hatte; Meiler wusste nicht mehr, wie viele. Das Thema ertrug er nicht. Er hielt es nicht aus, seine Frau das Wort »Optimismus« gebrauchen zu hören.
»Ich muss jetzt Schluss machen«, sagte er. »Grüß ihn von mir, ja?«
»Mach ich«, sagte Mizzie glücklich. »Da wird er sich freuen.«
Das kurze Gespräch hatte Meiler angestrengt wie ein Langstreckenlauf. Er schob es auf die Entscheidung, die er währenddessen gefällt hatte. Sofern eines der Eignungsgebiete zu seinem Besitz gehörte, würde er den Windpark in Unterleuten errichten lassen. Nicht für sich, sondern für seinen Sohn. Den jährlichen Pachtertrag von 150000 Euro würde er auf Philipps Konto überweisen, treuhänderisch verwaltet durch Mizzie.
Jahrelang hatte Meiler es abgelehnt, seinen Sohn finanziell zu unterstützen, solange er das Geld für die Beschaffung von Drogen ausgab. Dabei wurde Mizzie nicht müde, ihm zu erklären, dass Philipp bei Verwendung von sauberem Stoff ein langes und gesundes Leben führen könnte. Aber Meiler verabscheute Schwäche, und die Vorstellung, Philipps Kapitulation vor der Sucht zu finanzieren, bereitete ihm Übelkeit. Dass er jetzt plötzlich von seinem Grundsatz abrückte, hatte weniger mit Philipp als mit Mizzie zu tun. Es würde sie überglücklich machen, mit dem Geld für ihren geliebten Sohn sorgen zu können. Ihrer Meinung nach wusste niemand so gut wie sie, was das Richtige für Philipp war. Wenn Meiler selbst nichts mehr tun konnte, um zu Mizzies Glück beizutragen, dann sollte eben der Unterleutner Wind ihr den größten Wunsch erfüllen. Schließlich hatte er die Ländereien genau für solche Fälle ersteigert – Umgehungsstraße, Supermarktfiliale, Outletcenter oder eben Windkraft. So machte man Geld, und beim Geldmachen hatte er immer in erster Linie an seine Familie gedacht.
Meiler erhob sich von seinem Kingsize-Bett im Berliner Adlon, wo er abzusteigen pflegte, wenn er sich in der Hauptstadt aufhielt, nahm den Autoschlüssel vom Tisch und fuhr mit dem Aufzug in die Tiefgarage.
Eine knappe Stunde später stand er vor einem Neubau im Zentrum der Kreisstadt Plausitz und stemmte sich vergeblich gegen die Glastür. Noch einmal kontrollierte er die Öffnungszeiten: Montag bis Freitag, 8 bis 12 Uhr. Es war Freitag, der 16. Juli 2010, 11:45 Uhr. An einem leisen Surren erkannte er schließlich, dass sich die Glastür sehr wohl bewegte. Sie öffnete sich automatisch, mit einer unfassbaren Langsamkeit, die Meiler für Stillstand gehalten hatte.
Im vierten Stock belegten die Bausachen mehrere Büros. Auf gut Glück klopfte Meiler an die erste Tür. Frau Liebkind war höchstens dreißig und von Kopf bis Fuß kariert. Sie saß in einer Kammer, die den Schreibtisch eng umschloss. An der Wand ein selbstgebastelter Kalender mit Katzenphotos. Nach einer einladenden Handbewegung ihrerseits kauerte sich Meiler auf ein Stühlchen und betrachtete die Rückseite des Monitors.
»Dann wollen wir mal sehen«, sagte Frau Liebkind. »Schiefe Kappe auf der Plausitzer Höhe, südlich der Unterleutner Landstraße. Das sind die Flurstücke 27/3 und 27/4 sowie die 28/1. Insgesamt etwa zwanzig Hektar. Was wollen Sie wissen?«
»Ich möchte wissen, ob ich auf der Schiefen Kappe Land besitze.«
»Das tun Sie, Herr Meiler, und zwar das Flurstück 28/1. Acht Hektar.«
»Das reicht nicht.«
Frau Liebkind lachte.
»Ich meine, es reicht nicht für das Vorhaben.«
»Windkraft?« Sie nickte, ohne den Blick vom Monitor abzuwenden. »Dafür brauchen Sie zehn Hektar, und zwar zusammenhängend. Am besten, Sie kaufen das mittlere Flurstück dazu. Zwei Hektar.«
»Wer ist der Eigentümer?«
»Die Datensätze sind leider vertraulich. Aber wenn Sie ein Kaufinteresse anmelden wollen, kann ich den Eigentümer für Sie kontaktieren. Dann müssen Sie warten, ob sich der Betreffende bei Ihnen meldet. Kann natürlich dauern.«
Frau Liebkinds Fingernägel waren orange lackiert, dazu passte ihr Lippenstift. Meiler lehnte sich zur Seite, um ihr in die Augen zu sehen und herauszufinden, ob sich der Bildschirm darin spiegelte. Unmöglich, etwas zu erkennen. So etwas funktionierte nur in Filmen.
»Es sind insgesamt drei Eigentümer auf der Schiefen Kappe?«
Frau Liebkind nickte und lächelte.
»Außer Ihnen noch zwei.«
»Wohnen die beiden anderen in Unterleuten?«
Frau Liebkinds Lächeln vertiefte sich.
»Das darf ich Ihnen eigentlich nicht sagen.«
Verzweifelt sah Meiler sich in dem winzigen Raum um. Ein Kaufinteresse anzumelden, einfach ins Blaue hinein, konnte einen unverzeihlichen Fehler bedeuten. Er überlegte, eine Frage zu den Katzenphotos zu stellen, um etwas Zeit zu gewinnen. Frau Liebkind lächelte noch immer. Sie war halb so alt wie er und blickte ihn an wie eine nachsichtige Mutter, die sich heimlich über die Seelennöte ihres Kinds amüsiert. Dann stand sie auf.
»Herr Meiler, ich gehe jetzt kurz raus und hole mir einen Kaffee.« Mit dem Zeigefinger strich sie über die obere Kante des Bildschirms und drehte ihn wie zufällig ein Stück in Meilers Richtung. »Bis gleich.«
Ihr bezauberndes Lächeln blieb noch eine Weile im Raum, nachdem sie schon verschwunden war.
18 Fließ-Weiland
»Haben Sie Probleme mit den Nachbarn?«, fragte Jule.
»Wie bitte?«
Alleine hatte Jule dem Bürgermeister noch nie gegenübergesessen. Zum ersten Mal fiel ihr auf, dass er ihrem ehemaligen Geschichtslehrer ähnelte. Allerdings ein wenig schlaff, als wäre er einst ein stattlicher Mann gewesen, der in kurzer Zeit viel Gewicht verloren hat.
»Das macht sehr viel Lärm«, sagte Jule.
»Ach, das.« Arne schloss das Fenster. Das Knattern des Rasentraktors wurde leiser, war aber immer noch deutlich zu hören. »Das ist Herr Hübschke von nebenan.«
»Wenigstens müssen Sie das nur einmal die Woche ertragen.«
»Er mäht täglich.«
»So schnell wächst Gras doch gar nicht.«
»Er mäht zur Entspannung. Stundenlang.«
Arne Seidel setzte sich hinter den Schreibtisch, legte die Hände vor sich auf die Filzunterlage und lächelte Jule auffordernd an. Offensichtlich wollte er, dass sie jetzt zur Sache kam, aber der Rasenmäher bannte ihre Aufmerksamkeit.
»Das heißt, Sie wohnen und arbeiten hinter geschlossenen Fenstern?«
»Meistens.«
»Und können auch im Sommer nicht lüften?«
»Nur kurz.«
»Das muss doch furchtbar sein.«
»Frau Fließ.« Arne Seidel kniff die Augen zusammen. Das hatte der Geschichtslehrer, dessen Name Jule nicht einfallen wollte, auch immer getan, wenn ihm etwas nicht gefiel. »Kann ich Ihnen etwas anbieten? Wasser? Tee?«
Er war der Erste, der Kaffee oder Alkohol gar nicht erst vorschlug.
»Nein, danke.«
»Braucht das Baby etwas?«
Er war auch der Erste, der sich nach Sophie erkundigte, die schon wieder schlief, als wollte sie die letzten vier Nächte nachholen. Wenn Jule ans Schlafen dachte, wurde ihr schwindlig. Der Besuchersessel war so bequem, dass sie ihn kaum spürte. Ein Gefühl, als säße sie auf einer Wolke. Jule fixierte das Kinn des Bürgermeisters, bis das Zimmer zu schwanken aufhörte.
»Ein schönes Glas Milch für die Kleine?«
Höflich lachte sie über seinen Witz. Sie hatte Arne Seidel immer gemocht. Am Anfang, als Gerhard und sie in Unterleuten einfach alles gut fanden, pflegten sie einander nach jeder Begegnung mit Arne zu versichern, das Dorf habe den Bürgermeister, den es verdiene. Ein außergewöhnlich nettes Dorf mit einem außergewöhnlich netten Bürgermeister. Sie beugte sich vor und legte ihm die Unterschriftenliste auf den Tisch. Er nahm sich Zeit, Titel und Namen in Ruhe zu mustern.