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»Hören Sie, Frau Fließ.« Bei der Tatsache, dass er sie ständig mit Namen ansprach, musste es sich um eine Berufskrankheit handeln. »Ich freue mich, wenn sich die Bürger engagieren. Gerade bei Zugezogenen. Das ist ein Zeichen von Gemeinschaftssinn. Aber ich kann das nicht unterschreiben.«

Er schob das Klemmbrett bis an den äußersten Rand der Tischplatte. Gewiss hätte Jule sich erheben sollen, um es an sich zu nehmen. Aber sie konnte nicht. Sophies Gewicht drückte schwer auf ihre Brust, die regelmäßigen Atemzüge der Kleinen wirkten wie ein Schlafmittel.

»Als Gemeindevorsteher muss ich in dieser Angelegenheit neutral bleiben. Dafür haben Sie sicher Verständnis.«

Jules Konzentration glitt an seinen Worten ab. Der Rasentraktor schrie und nörgelte. Jule glaubte, das fette Tier von nebenan geduckt auf der Maschine kauern zu sehen, wie es mit höhnischem Grinsen seine Runden zog.

»Wann bekommen wir unsere Baugenehmigung?«, hörte sie sich murmeln. »Für die Mauer.«

Überrascht blickte Arne auf. »Das Verfahren geht seinen gewöhnlichen Gang.«

Der Bürgermeister verschwamm an den Rändern. Der Geschichtslehrer hatte Herr Hoppe geheißen. Es war eine Erleichterung, sich daran erinnern zu können. Jule spürte, wie sich ihre Lippen zu einem Lächeln verzogen, obwohl das eigene Gesicht nicht mehr zu ihr gehörte.

»Das Tier macht uns fertig«, flüsterte sie.

»Frau Fließ?«

Das Geräusch des Rasenmähers verlor sich in der Ferne. Schwoll an, schwoll ab. Menschen besaßen kein Recht, einander zu quälen. Das wollte sie Arne sagen.

»Frau Fließ?«

19 Seidel

Es polterte an der Tür wie bei einem Auftritt Knecht Ruprechts.

»Da ist er ja«, sagte Arne leise zu sich selbst.

Soeben hatte er die schlafende Frau Fließ samt Baby aus dem Besuchersessel gehoben und ins Wohnzimmer getragen, wo er sie aufs Sofa bettete. Er legte sie auf den Rücken und stabilisierte ihren Körper mit einem Kissen, um zu verhindern, dass sie im Schlaf das Baby unter sich begrub. Dann lockerte er den Stoff des Tragetuchs, damit kein Hitzestau entstand, und beugte sich vor, um am Hinterkopf der schlafenden Kleinen zu riechen. Der Geruch war so intensiv, dass er beschämt zurückzuckte, als hätte er versucht, etwas zu stehlen, das ihm nicht gehörte.

Das Poltern an der Tür steigerte sich zu einem regelmäßigen Wummern. Jemand schlug mit der flachen Hand gegen das Holz und rüttelte mit der anderen am Knauf. Arne hatte diesen Auftritt vorhergesehen. Seit der Versammlung am Vorabend wartete er auf das Erscheinen seines Freundes. Er wäre nicht einmal überrascht gewesen, wenn ihn das Hämmern an der Tür mitten in der Nacht aus dem Bett geholt hätte. Gombrowski kam, wann er wollte, und benutzte grundsätzlich keine Klingeln.

Als Arne die Tür öffnete, walzte Gombrowski ohne ein Wort des Grußes an ihm vorbei und strebte schnurstracks ins Arbeitszimmer, wo er schnaufend stehen blieb. Arne folgte gemächlich und setzte sich hinter den Schreibtisch. Er hatte nicht nur geahnt, dass Gombrowski kommen, sondern auch, wie sich die Situation abspielen würde. Und er behielt recht. Von der ersten Sekunde an lief Gombrowskis Besuch wie auf Schienen. Arne bot ihm etwas zu trinken an und wusste, dass er ablehnen würde. Er forderte ihn auf, sich zu setzen, und wusste, dass er stehen bleiben wollte. Gombrowski begann, vor dem Schreibtisch auf und ab zu laufen und eine Ansprache zu halten, der Arne nicht zuhörte, weil er sich jedes Wort selbst denken konnte. Entspannt lehnte er im Schreibtischstuhl und bewunderte Gombrowskis Stimme, die in wütenden Stößen dröhnte wie eine Tuba.

Weil der Bürgermeister von Unterleuten kein Amtszimmer zur Verfügung gestellt bekam, hatte Arne sein ehemaliges Esszimmer zum Büro umfunktioniert. Von hier aus besaß man den besten Blick in den Garten, der ab der Mitte zunehmend von großen Kiefern dominiert wurde, als versuchte der angrenzende Wald, sich ans Haus heranzupirschen. Nach hinten hin wurde der Rasen löchrig und kümmerlich und ging schließlich in eine Sandfläche über, weil das Gras kein Licht mehr bekam.

Bevor Kathrins nichtsnutziger Ehemann auf die Idee mit dem Rasentraktor gekommen war, hatte Arne viel Zeit damit verbracht, am Fenster zu sitzen und hinauszusehen. Tagsüber hatte er Spechte, Hasen, Eichelhäher und Bussarde beobachtet. Inzwischen trauten sich nur noch Nachttiere in den Garten. In der Abenddämmerung kamen Fledermäuse, Waschbären, Füchse und Marder. Manchmal zog eine Eule ihre lautlose Bahn, oder ein Reh wagte sich nah ans Haus heran, um das gut gedüngte Gras im vorderen Teil zu fressen. Arne freute sich über jedes Tier. Nur wenn Wildschweine auftauchten, rannte er schreiend hinaus und schwenkte ein Handtuch über dem Kopf.

Leider half das Handtuch nicht gegen Wolfi. Während Gombrowski weiter hin und her lief und dabei schimpfte, sah Arne zu, wie Wolfi immer wieder möglichst dicht am Zaun entlangfuhr, weil er sich einen Sport daraus machte, einzelne Grashalme im direkten Umfeld der Zaunpfosten zu erwischen. Gemocht hatte Arne den hageren Möchtegern-Schriftsteller noch nie, aber inzwischen konnte sich seine Genervtheit in veritablen Hass verwandeln, wenn er die leicht gekrümmte Gestalt auf dem knatternden Traktor betrachtete. Besonders hasste er den runden Kopf, von dem sich das Haar bereits zurückzog und an dem seitlich die Micky-Maus-Ohren eines Lärmschützers saßen, mit dem sich Wolfi gegen jenen Krach abschottete, der Arne in den Wahnsinn trieb. Er würde nie verstehen, was Kathrin an diesem Dünnbrettbohrer fand. An Werktagen lag Wolfi bis zehn in den Federn, weil er angeblich nachts an seinen Theaterstücken arbeitete. In Wahrheit guckte er auf seinem Computer Filme, sobald Kathrin zu Bett gegangen war, was Arne am bunt flackernden Widerschein an den Wänden von Wolfis Arbeitszimmer erkennen konnte. Statt sich wenigstens anständig um Krönchen zu kümmern, die ein immer größerer Quälgeist wurde, hätschelte Wolfi seine Neurosen und ließ sich das schriftstellerische Versagen seelenruhig von seiner Frau finanzieren.

Einmal hatte Arne Kathrin am Gartenzaun gefragt, warum sie kaum noch Kontakte im Dorf pflege und nicht einmal zum Osterfeuer oder Erntedankfest erscheine. Erst hatte sie sich auf ihre Arbeit herausgeredet und darauf, dass Krönchen sie ständig auf Trab halte. Weil Arne das nicht gelten ließ, sagte sie schließlich:

»Du musst das verstehen. Wolfi kommt nicht aus Unterleuten. Er ist nur meinetwegen hier.«

Übersetzt hieß das: Er hält sich für etwas Besseres und hat keine Lust auf euch Dörfler.

Für Arne stand fest, dass Kathrin einen besseren Mann verdiente. Einen, der sie ernst nahm und der ihr zuhörte. Der arbeiten ging und die schweren Tätigkeiten im Haushalt erledigte. Manchmal fühlte sich Arne wie ein eifersüchtiger Vater. Er musste erleben, wie ihm ein minderwertiger Schwiegersohn die Ersatztochter wegnahm und ihm dann noch die Tage mit seinem knatternden Hobby vergällte.

Plötzlich trat Ruhe ein. Wolfi leerte den Fangkorb. Arne breitete die Arme aus und dehnte den schmerzenden Rücken. Langsam begannen ihm Gombrowskis Tiraden auf die Nerven zu gehen. Warum Arne ihm nicht rechtzeitig von der Windkraftoption erzählt habe. Dass sie gemeinsam ein besseres Eignungsgebiet ausgesucht hätten. Auf der Schiefen Kappe besitze er, Gombrowski, nur acht Hektar, für den Windpark brauche er aber mindestens zehn, und zwar zusammenhängend. Wie Arne ganz genau wisse, gehe es der Ökologica nicht besonders gut, sie sei aber immerhin der größte Arbeitgeber in der Region, und die Propeller könnten sie retten. Da capo, da capo.

Natürlich war ein Bürgermeister immer auch Prügelknabe für alle Frustrierten. Ein Großteil des Jobs bestand darin, an allem schuld zu sein. Trotzdem hatte Arne mit einem Mal keine Lust mehr, sich beschimpfen zu lassen. Der alte Hund hatte genug Zeit bekommen, um sich abzureagieren.

»Einigt euch«, sagte Arne.

Gombrowski blieb so abrupt stehen, dass Arne schon dachte, er müsse stürzen. Aus schweren Augen blickte er Arne an. In der plötzlichen Stille traf Arne eine Entscheidung. Er würde Wolfis Treiben ein Ende setzen. Alle Versuche, mit Kathrin über den Rasenmäher zu reden, waren erfolglos geblieben. Jetzt würde er die Sache selbst in die Hand nehmen, und er wusste auch schon, wie. Nur weil er versuchte, ein guter Bürgermeister zu sein, musste ihm nicht das ganze Dorf auf der Nase herumtanzen.