Langsam breitete sich die angenehme Erkenntnis in ihm aus, dass ihn der Vogelschützer samt Freizeithemd, grauen Professorenschläfen und leichtem Schweißgeruch nichts anging. Sollte Linda doch ihr Dorf-Spielzeug in die Luft werfen und herausfinden, ob es beim Herunterfallen zerbrach oder ihr die Finger zerquetschte. Er konnte sie ohnehin nicht davon abhalten. Letztlich war sie eine erwachsene Frau, auch wenn es nicht immer den Anschein hatte. Anders als am Vortag schien es ihm nicht mehr so wichtig, ihrem Fanatismus entgegenzuwirken. Sie würde sich immer wieder ein neues Schlachtfeld suchen. Im Rossfrauen-Forum hatte Frederik gelernt, dass jeder Versuch, die Partnerin zu ändern, ins Unglück führte. Ändere dich selbst oder lerne, mit den Problemen zu leben, lautete die Devise.
Während vor den Fenstern das Niemandsland vorbeizog und Linda über Dorfpolitik sprach, dachte Frederik an die Glas-und-Steine-Welt Berlins. An Straßen, auf denen sich Unmengen von Menschen bewegten, und an den Lärm, den diese Bewegung verursachte. Er dachte an die Firmenräume von Weirdo mit ihren bunt gestrichenen Wänden, mit den vielen Sitzecken, Spielecken, Chill-Ecken und Yoga-Ecken, mit Monitoren, auf denen die Entwürfe für ein neues Traktoria-Level liefen, und mit Kühlschränken auf allen Fluren, die täglich mit Magnum-Eis und Bionade gefüllt wurden. Vermutlich würde sich Frederik an keinem anderen Ort auf dem Planeten jemals so zu Hause fühlen wie in der Weirdo-Welt. Spontan beschloss er, am Abend nach Berlin zu fahren und die nächsten Tage in der Firma zu arbeiten, umgeben von Leuten, deren Lebenssinn darin bestand, sich mit möglichst intelligenten Maschinen zu verbinden, auf hochauflösende Monitore zu starren und ihre Handys zu streicheln.
Wurde Timo von Journalisten gefragt, ob es ihn glücklich mache, mit 25 Jahren über ein Privatvermögen von 50 Millionen Euro zu verfügen, pflegte er zu antworten, dass er schon mit vierzehn und null Euro glücklich war, als er sein erstes Jump ’n’ Run programmierte, auch wenn die Figuren wie Klorollen mit Beinen ausgesehen hatten. Menschen wie Frederik und Timo hatten keine Meinung zu Windrädern. Politischen Protest fanden sie peinlich, es sei denn, er passierte im Internet und sah so schick aus wie Ronnys kleine Animation zur Vorratsdatenspeicherung, die ein Renner auf YouTube geworden war.
Wenn es Frederik nicht gelungen wäre, Linda zu erobern, hätte sich sein gesamtes Leben zwischen Bildschirm, Späti, Eckkneipe und Dachwohnung über dem Landwehrkanal abgespielt. Inzwischen wusste er, dass das ein verfehltes Leben geworden wäre. Sosehr ihm die Freundlichkeit, der Erfolg und die verblüffende Totalabwesenheit von Problemen in Timos Universum gefielen – nach ein paar Tagen wurde ihm langweilig. Dann sehnte er sich nach dem Holz- und Farbgeruch von Objekt 108 und nach Lindas Art, das Leben mit beiden Händen zu würgen – so wie er sich jetzt nach der Berliner Uneigentlichkeit sehnte. Frederik konnte sich in der Großstadt vom Land und auf dem Land von der Stadt erholen. Sein persönlicher Luxus bestand nicht darin, in einer Welt alles zu erreichen. Sondern darin, zwischen verschiedenen Welten hin- und herwechseln zu können.
Der Frontera schoss aus dem Wald. Linda ließ das Gaspedal los, weil der Schwung ab jetzt ausreichen würde, um mit gut 60 km/h am Ortsschild von Unterleuten anzukommen, weiter auszurollen und an der Kirche mit 30 km/h abbiegen zu können, ohne einmal auf Gas oder Bremse treten zu müssen. Frederik fand es unheimlich, dass Linda über solche Dinge nachdachte und daran arbeitete, ihre Technik zu verbessern.
Immerhin konnte er bei abnehmender Geschwindigkeit die Anfahrt aufs Dorf genießen. Die Allee mit den schräg nach außen wachsenden Birnbäumen, die satt gelben Weizenfelder, der dunkelgrüne Saum des Waldes und der makellos blaue Himmel darüber, alles sauber abgegrenzt und eingeteilt wie der Bildschirmhintergund einer alten Windows-Oberfläche. Ein paar Windräder würden das Panorama in seinen Augen eher perfektionieren als stören, aber diese Auffassung behielt er lieber für sich.
»Was will der denn?«
Sie hatten den Stichweg erreicht, der zu Objekt 108 führte, und näherten sich dem gekiesten Vorplatz. Dort stand ein klobiger Range Rover, an dessen Fahrertür ein nicht weniger klobiger Mann lehnte, in die Betrachtung seiner Stiefelspitzen versunken.
»Das ist der Ökologica-Chef«, sagte Linda. »Heute habe ich irgendetwas an mir, das Groupies anlockt.«
Sie bremste, dass Kies unter den Reifen aufspritzte. Der Ökologica-Chef schaute nicht einmal auf, als hätte er den ankommenden Frontera gar nicht bemerkt. Beim Anblick der stoischen Gestalt wurde Frederik mulmig zumute.
»Sei vorsichtig, ja?«, bat er leise.
Linda löste mit einer Hand den Gurt, zog mit der anderen die Handbremse an und schob mit dem Fuß bereits die Fahrertür auf, als sie sich noch einmal zu ihm herüberbeugte und ihn küsste.
21 Gombrowski
»Womit kann ich dienen?«
Er mochte ihren Tonfall nicht. Frau Franzen klang, als würde sie sich über ihn lustig machen, wozu wahrlich kein Anlass bestand.
»Guten Tag erst mal«, sagte Gombrowski.
Statt den Gruß zu erwidern, stand sie einfach vor ihm und sah ihn an. Vielleicht war sie nicht ganz richtig im Kopf; immerhin war sie eine Frau. Gombrowski verstand nicht, wie Frauen funktionierten. Erst vor einer knappen Stunde war in Arnes Hausflur die rothaarige Kleine vom Vogelschützer aufgetaucht wie eine Geistererscheinung, und als Gombrowski fragte, warum sie mit einer Unterschriftenliste herumlaufe, statt ihn, wenn ihr etwas nicht passe, einfach mal im Büro zu besuchen, hatte sie fast zu heulen begonnen. Weil er trotz allem ein Gentleman war, machte er sie nicht zur Schnecke, sondern fuhr sie und ihr Baby nach Hause. Ihre Überraschung darüber, dass er in ganzen Sätzen sprechen konnte, hatte sie nicht einmal zu verbergen versucht.
Das war typisch Frau und typisch Wessi. Seit zwei Jahren lebte die Rothaarige im Dorf und war kein einziges Mal auf ein Schwätzchen in die Ökologica gekommen. Ihr Mann hatte sich bei seinem Antrittsbesuch als neuer Obervogel vorgestellt und trat seitdem vor allem in Form von Briefen in Erscheinung, mit denen er ankündigte, das eine oder andere Vorhaben der Ökologica aus Naturschutzgründen verbieten zu wollen. Gombrowski hielt sich nicht für einen Umweltschützer, aber er war grundsätzlich bereit, über Bedenken jeder Art zu reden. Bei einem Bier im Landmann oder einer Tasse Kaffee im Büro. Man sprach miteinander, fand eine Lösung. Man gab sich die Hand und ging als Freunde auseinander. In der Welt von Frauen und Westdeutschen kam ein solches Verhalten nicht vor. Sie schickten Briefe oder gleich den Anwalt oder fingen an zu schreien und zu heulen und wunderten sich hinterher, wenn man ihnen nur mit äußerster Vorsicht begegnete.
Die Blonde kam ebenfalls aus dem Westen und besaß dementsprechend keine Manieren. Auch sie lebte schon geraume Weile im Dorf und hatte sich nie bei ihm vorgestellt. Statt ihn jetzt hereinzubitten und ihm etwas zu trinken anzubieten, stand sie da wie eine Statue und glotzte ihn an. Zu allem Überfluss war sie ziemlich groß, und Gombrowski konnte große Frauen nicht ausstehen. Elena reichte ihm kaum bis zur Schulter, und Hilde war sogar noch ein gutes Stück kleiner. Nach vierzig Jahren Ehe geriet Gombrowski noch immer ins Staunen, wenn er Elenas Schuhe im Flur stehen sah, so winzig, dass sie nicht für einen Menschen mit eigenem Konto und eigener Meinung gemacht schienen. Als er Elena noch berühren durfte, hatte es ihn glücklich gemacht, sie in den Arm zu nehmen und festzuhalten. Ihr zierlicher Körper hatte seiner eigenen Massigkeit Berechtigung gegeben. Bei ihr war Gombrowski ein Gehäuse, ein Futteral für eine viel zu zarte Person, und für ein paar Augenblicke spielte es keine Rolle mehr, dass er in einer Welt lebte, deren Kleidungsstücke, Möbel, Türen und Fahrzeuge nicht für ihn gemacht waren.