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Mit einem Mal war Gombrowskis Wut verraucht. Die Blonde brauchte Hilfe. Sie wusste nicht, dass zum Haus zwei Hektar Land auf der Schiefen Kappe gehörten, und sie wusste nicht, was für ein absurdes Bauprojekt sie sich mit diesem Anwesen aufgeladen hatte. Die Villa hatte drei erwachsenen Menschen den Garaus gemacht, und die Blonde war noch ein halbes Kind. Der langhaarige Versager würde ihr nicht zur Seite stehen. Gombrowski hingegen konnte helfen. Er besaß alles, was sie benötigte. Maschinen, Arbeitskräfte und Beziehungen zu den Behörden.

Der größte Vorteil entsteht, wenn jeder bekommt, was er sich wünscht – dieser Satz war für Gombrowski keine Masche, sondern eine Philosophie. Trotz seinem tölpelhaften Einstieg gab es eigentlich keinen Grund, daran zu zweifeln, dass die Blonde an ihn verkaufen würde. Er hatte sich wie ein Anfänger benommen, aber er konnte seine Strategie anpassen. Als väterlicher Freund würde er sie über die Lage aufklären, und als solcher konnte er ihr bei ihrem Sanierungsprojekt helfen. Letztlich ein Glücksfall. Eine überrumpelte junge Frau war besser als eine, die das ultimative Pokerface beherrschte. Man musste die Überrumpelung nur geschickt zu nutzen wissen.

»Frau Franzen«, sagte Gombrowski.

Obwohl sie ihn die ganze Zeit angesehen hatte, schaute sie jetzt ein wenig verwirrt, wie aus dem Schlaf geschreckt. Er konnte es drehen und wenden, wie er wollte – er wurde nicht schlau aus ihr.

»Ich glaube, ich muss Sie erst mal über ein paar Details in Kenntnis setzen.«

Er verlagerte das Gewicht nach vorn, zog ein gefaltetes Blatt aus der Gesäßtasche und glättete es auf dem Gartentisch. Eine Kopie der Flurkarte. Linda Franzen beugte sich vor.

22 Kron-Hübschke

Niemand ging zum Spaß in den Wald. Für die Unterleutner war der Wald kein Naherholungsgebiet, sondern ein Arbeitsplatz, und zwar ein gefährlicher. Kein Mensch konnte sich die steigenden Gas- und Ölpreise leisten. Deshalb kaufte man bei Kathrins Vater ein paar Bäume, schlug sie selbst, sägte sie klein und schob sie im Lauf eines langen Winters in den Ofen. Die meisten männlichen Dorfbewohner konnten verheilte Knochenbrüche oder Narben von Kettensägenverletzungen vorweisen. Der Wald hatte Erik umgebracht und Kron ein Bein zertrümmert. Der Wald war kein Ort, an dem man sich freiwillig aufhielt. Man fuhr in den Wald, um Holz zu machen. Oder man suchte Pfifferlinge, für die es in Plausitz gutes Geld gab. Oder beteiligte sich an einer Treibjagd und nahm ein halbes Wildschwein mit nach Hause. Freie Zeit verbrachten die Unterleutner lieber woanders.

Kathrin stellte eine Ausnahme dar. Wann immer sie konnte, unternahm sie einen Spaziergang in den Wald. Aus ihrer Sicht war der Wald etwas Magisches: ein Lebewesen, in dem man herumlaufen konnte. Er brachte alle Fragen zum Schweigen. Um etwas über den Sinn des Lebens, die Bedeutung des Todes oder die Ursache des Seins zu erfahren, genügte es, in die Hocke zu gehen und den Waldboden in Augenschein zu nehmen. Wer einen Ameisenstaat bei der Besiedelung eines Baumstumpfs beobachtete; wer sah, wie Grashalme auf einem Felsblock wuchsen; wer Pilze kannte, die in Grüppchen beisammenstanden wie dünnbeinige Partygäste und gemeinsam einen fauligen Ast verdauten – der wusste, dass die Antwort auf alle Fragen »Stoffwechsel« lautete. Kathrin empfand dieses Wissen als beruhigend. Ihr gefiel die Vorstellung, dass die Stoffe, aus denen sie bestand, eines Tages in die Blüte einer Blume oder das glänzende Gefieder eines Vogels eingehen würden.

Kron hatte ihr beigebracht, den Wald zu lesen, lange bevor er selbst Waldbesitzer geworden war. »Du musst vor nichts Angst haben, meine Kleine«, hatte er gesagt, wenn sie wegen eines toten Maulwurfs am Wegrand in Tränen ausgebrochen war. »Im Wald geht nichts und niemand verloren.« Jedes Wochenende war er ihr voran durchs Unterholz gestiefelt und hatte ihr gezeigt, was den menschlichen Willen von dem der Natur unterschied. Während es im Mischwald auf allen Ebenen krabbelte, wucherte und flatterte, regte sich zwischen den geraden Linien der Kiefernplantagen kein Vogel, keine Ameise, kein Käfer.

»Hier«, sagte Kron, im Mischwald stehend, »wird gelebt, und dort«, sein Arm zeigte auf die angrenzende Monokultur, »wird gedient.«

Ihre Beziehung hatte sich rapide verschlechtert, als Kathrin alt genug war, um zu fragen, wie er mit dieser Einstellung ausgerechnet Kommunist hatte werden können. Immerhin teilten sie trotz aller Differenzen bis heute die Liebe zum Wald.

Meistens führten Kathrins Spaziergänge am Jagdhaus vorbei, wo sie bei Kron nach dem Rechten sah, bevor sie ihren Weg fortsetzte. Das spitzgiebelige Gebäude stand einsam auf einer Lichtung und hätte in jedem Märchenfilm als Hexenhaus Verwendung gefunden. Kathrin war dort aufgewachsen und liebte das Haus.

Kurz nach der Wiedervereinigung war sie mit 16 Jahren in einen Zug gestiegen und nach Düsseldorf zu ihrer Mutter gefahren, getrieben von dem Entschluss, Unterleuten und dem Krieg ihres Vaters gegen Gombrowski den Rücken zu kehren. Dass sich die geplante Auswanderung in einen Kurzbesuch verwandelte, lag nicht an der fremden Frau, die sie auf dem Düsseldorfer Bahnsteig abholte. Auch nicht an dem gesichtslosen Mann am Steuer eines Sportwagens, auf dessen Rückbank Kathrin mit angezogenen Knien kauerte. Schuld trug das hellgrüne Reihenhaus in einer Vorortsiedlung, das auf einem mit Buchsbaum bepflanzten Handtuch stand. Kathrin brauchte keinen Farbfernseher, keine gepflasterten Bürgersteige und letztlich auch keine Mutter, an die sie keinerlei Erinnerungen besaß. Was sie brauchte, waren das Jagdhaus und der Wald. Als sie nach Unterleuten zurückkehrte und ihrem Vater vom Düsseldorfer Reihenhaus erzählte, war er aus dem Sessel gesprungen und rief: »Danke, du verdammte Hütte. Hast mir meine Kathrin wiedergebracht.« Obwohl sein Mund zu einem Grinsen verzogen war, sah Kathrin, dass er weinte.

Auch heute hatte Kathrin auf ihrem Spaziergang im Jagdhaus vorbeigeschaut, und sie hatte Kron in desolatem Zustand vorgefunden. Er lief im Zimmer hin und her, schlug an die Wände und ließ Tiraden gegen Gombrowski vom Stapel, die sie an die schreckliche Zeit nach seinem Unfall erinnerten, als ihn nur der Hass auf seinen Widersacher am Leben hielt. Vor allem die Verwirrtheit seiner Rede hatte sie erschreckt. Kron stellte Zusammenhänge her, die keinen Sinn ergaben, als hätte der Abend im Märkischen Landmann einen Kurzschluss zwischen Vergangenheit und Gegenwart erzeugt. Die LPG-Umwandlung, Eriks Tod, Schallers Unfall, eine Versteigerung, ein Investor, Hildes Kätzchen, Vogelschützer, brennende Autoreifen.

Um den Ausbruch in vernünftige Bahnen zu lenken, hatte Kathrin gefragt, ob es stimme, dass Kron eins der Eignungsgebiete gehöre. Die Frage hatte sich als Fehler erwiesen, sie verwandelte Kathrin in das Ziel seiner Wut. Ob sie wirklich zu blöd sei, um zu verstehen, dass Arne und Gombrowski unter einer Decke steckten. Er, Kron, könne so viele Eignungsgebiete besitzen, wie er wolle, er würde niemals bei einem Vorhaben berücksichtigt werden, solange Arne im Sattel saß.

Kathrin sagte, dass sie keine Windräder in Unterleuten wolle, ganz egal, auf wessen Land sie stünden.

Da steigerte sich Krons Litanei zu wahrem Gebrüll. Es gehe doch gar nicht um Windräder, sondern darum, dass Gombrowski schon wieder ein mieses Ding durchziehe. Gombrowski, der Hund, der Arsch, das Schwein.

Nach fünf Minuten hatte Kathrin die Raserei nicht länger ertragen und war gegangen. Der Plattenweg verließ den Wald und führte durch ein ausgetrocknetes Stück Heidelandschaft, in dem die Grillen einen elektrischen Lärm erzeugten, als stünde der Boden unter Hochspannung. Das Ortsschild von Unterleuten warf einen scharfen Schatten, schartiger Beton ging in beuliges Kopfsteinpflaster über. Kathrin folgte dem leicht abschüssigen Beutelweg, bis sie linker Hand in die Waldstraße einbiegen musste. Sie kam an vier Häusern vorbei, die genauso aussahen wie ihr eigenes. Die kleine Siedlung war in den fünfziger Jahren für die Familien der Waldarbeiter erbaut worden und bestand aus schmucklosen Gebäuden, die angenehm weit auseinanderstanden und die richtige Größe besaßen. Die Räume waren hell, gut geschnitten und problemlos zu heizen. Am besten gefiel Kathrin, dass der Wald seine Ausläufer bis in die Gärten streckte. Auf ihrem Grundstück standen 14 Kiefern, die Wolfi als seine persönlichen Feinde betrachtete, weil er sie beim Rasenmähen umfahren musste. Trotzdem hätte Kathrin niemals erlaubt, einen der Bäume zu entfernen.