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Einziger Pferdefuß war die unmittelbare Nachbarschaft zu Arne. Als kleines Mädchen hatte Kathrin viel Zeit bei ihm und Barbara verbracht. Alle Häuser in der Waldstraße waren baugleich und besaßen denselben Grundriss. Egal, ob Kathrin kochte, duschte oder sich die Zähne putzte – in Arnes Haus hätte sie dabei an der gleichen Stelle gestanden. Ihr Gästeklo konnte sie nicht betreten, ohne daran zu denken, wie sie früher halbe Nachmittage mit einem Buch auf Arnes Toilette gesessen hatte. Selbst ihr Ehebett stand genauso wie das von Arne und Barbara. Der Zuschnitt der Räume sorgte dafür, dass sie häufiger an ihn dachte, als sie wollte.

Schon auf halbem Weg sah sie den großen Tankwagen, der quer in der schmalen Straße stand. Das Hinterteil mit dem aufgerollten Schlauch stieß fast an den Gartenzaun. In der Luft hing jener Schwefelgeruch, der das Fahrzeug der Plausitzer Klärwerke begleitete. Jeden zweiten Freitag kam es am frühen Abend vorbei, um die Ausscheidungen der Familie Kron-Hübschke abzusaugen. Zu diesem Zweck musste der Tankwagen rückwärts in einen grasbewachsenen Weg einscheren, denn der Zugang zur Sammelgrube lag hinter dem Haus.

Kathrin beschleunigte ihre Schritte. Etwas musste schiefgegangen sein. Der Motor lief, neben dem Trittbrett der Kabine stand Wolfi und redete auf den Fahrer ein, der am Steuer saß und immer wieder den Kopf schüttelte. Gerade fasste Wolfi nach oben, um den Mann am Ellbogen zu berühren. Mit wütender Geste wehrte dieser ihn ab.

»Dann sorgen Sie verdammt noch mal dafür, dass die Zufahrt frei ist!«

Der Tankwagen ruckte an, so dass Wolfi zur Seite springen musste. Gemeinsam sahen sie dem großen Fahrzeug beim Rangieren zu. Mehrmals setzte es vor und zurück, um wieder vollständig auf die Straße zu gelangen. Genau gegenüber der Einfahrt zum Grasweg parkte ein alter Passat, der es dem Tankwagen unmöglich gemacht hatte, in den schmalen Weg einzuschwenken. Kathrin kannte das Auto. Es gehörte Arne. Wie alle Anwohner der Waldstraße besaß Arne einen befestigten Stellplatz auf dem eigenen Grundstück. Nie zuvor hatte er den Passat an der Straße geparkt. Dass es sich hierbei nicht um ein Versehen handelte, lag auf der Hand.

Unter dem Scheibenwischer klemmte ein Zettel. Während Wolfi hinüberging, um das Papier in Augenschein zu nehmen, setzte Kathrins Kopf die Bestandteile der Situation in Sekundenschnelle zu einem unerfreulichen Bild zusammen. Wenn die Sammelgrube nicht geleert wurde, dauerte es keine zwei Tage, bis sich das Wasser in sämtlichen sanitären Einrichtungen rückstaute. Dusche und Badewanne, Waschbecken und Toiletten wurden unbenutzbar, ebenso Geschirrspüler und Waschmaschine. Kathrin sah sich mit Wolfi und Krönchen vor der Tür des Jagdhauses stehen und ihren Vater um Asyl bitten, bis das Problem gelöst war. Wie Kron reagieren würde, stand fest. Er würde völlig ausrasten. Sie konnte ihn jetzt schon brüllen hören: »Was hab ich gesagt, Arne hängt mit drin! Das geht gegen mich! Sie schaden euch, um mich zu erpressen!«

Wolfi kam zu ihr und trug den Zettel vor sich her wie das Beweisstück in einem Mordfall.

»Guck.«

Der Tankwagen hatte die Kurve gekriegt, bog in den Beutelweg ein und verschwand. Kathrin nahm das Papier und strich es glatt. Kein Zweifel, das war Arnes Handschrift. Seit sie als Mädchen zugesehen hatte, wie er Einträge im ledergebundenen Veterinärprotokoll anfertigte, hätte sie die kleinen, in sich selbst verbissenen Buchstaben überall erkannt. Was da stand, machte sie traurig. Um Arnes willen, weil er von der Plattform seiner Gutmütigkeit herabstieg. Um Wolfis willen, der sich ohnehin nicht akzeptiert fühlte im Dorf. Um Krons willen, weil er alles auf sich beziehen würde. Um ihrer selbst willen, weil sie auf die ganze Geschichte keine Lust hatte. Wortlos gab sie Wolfi den Zettel zurück, sie wusste nicht, was sie dazu sagen sollte.

»Rasenmähen nur einmal die Woche«, stand auf dem Papier.

23 Franzen

»Dann würde ich mal sagen, weil ich der Alterspräsident bin …«

Lachend hob Fließ sein Glas und blickte seine Frau von der Seite an, als läge ungeheure Komik darin, dass er eine Generation nach unten geheiratet hatte.

»Also: Ich bin der Gerhard.«

»Jule.«

»Linda.«

Mit dumpfem Klacken trafen sich die Gläser über dem Couchtisch. Das selbstgemachte Ginger Ale schmeckte nicht schlecht, aber Linda ekelte sich vor den Ingwerstücken, die wie gedunsene Schwämme in der trüben Flüssigkeit schwammen. Außerdem war es unerträglich heiß im Raum. Sämtliche Fenster waren hermetisch verschlossen, die Luft verbraucht, die Wände hatten die Hitze des Hochsommers gespeichert. Man saß wie in einem Backofen. Zu allem Überfluss lag ein Geruch nach verbranntem Gummi in der Luft, der sich in der Nase festsetzte. Das Abendessen hatte nach Müllverbrennungsanlage geschmeckt; es lag Linda wie ein Stein im Magen. Die physische Erinnerung an ein Gratin, unter dessen Käsekruste dicke Kohlrabistücke im Hirse-Fundament steckten, würde sie vermutlich noch ein paar Tage begleiten.

Am Nachmittag hatte Jule plötzlich auf dem Kiesplatz vor Objekt 108 gestanden, ausgestattet mit Klemmbrett und unsicherem Lächeln. Noch bevor sie mit ihren Sprüchen zu Vogelschutz und Landschaftsschutz fertig war, hatte Linda bereits die Liste an sich genommen und unterschrieben. Trotzdem machte Jule keine Anstalten zu gehen. Von einem Bein aufs andere tretend, begann sie eine hilflose Plauderei. Wie es Linda in Unterleuten gefalle. Was sie beruflich mache. Ihre Verlegenheit war unerträglich. Als Linda unumwunden fragte, was Jule von ihr wolle, lief diese rot an. Ihr Mann habe sie geschickt. Nach der Begegnung im Baumarkt habe er sie genötigt, Linda von Frau zu Frau zu einem Treffen zu überreden, am besten noch am selben Abend. Immerhin wusste Linda seit Gombrowskis Besuch, warum sie mit einem Mal so viele Fans besaß.

Wortreich hatte Jule versucht, der Einladung noch schnell eine persönliche Note zu verleihen. Nicht dass Linda sie falsch verstehe, sie sei nicht nur im Auftrag ihres Mannes hier, sondern habe schon lange vorgehabt, Linda einmal einzuladen, schließlich sei es in einem kleinen Dorf wichtig, sich gut zu verstehen, und man habe vieles gemeinsam, sie kämen beide aus dem Westen, aus der Stadt und seien etwa gleich alt, da wäre es doch schön …

Jules Gefühl für die eigene Peinlichkeit erwies sich als ansteckend, zumal Linda ohnehin keine Emotionen mochte, jedenfalls nicht die von anderen Leuten. Schließlich betonte Jule, dass das Verbot von Koppelbau und Stallsanierung allein Sache ihres Mannes sei, dass sie selbst damit überhaupt nichts zu tun habe. An dieser Stelle horchte Linda auf. Eine Freundin wollte sie nicht, aber Verbündete konnte sie gebrauchen, vor allem, wenn sie aus dem engsten Kreis ihres Gegners stammten. Obwohl Jule einen Hirseauflauf androhte, willigte Linda ein, am Abend zum Essen vorbeizukommen.

Jetzt saßen sie erschöpft von Hitze und Hirse auf der Rattan-Sitzgruppe im Wohnzimmer und warteten darauf, was Fließ nach seiner Duz-Offensive als Nächstes tun würde. Während des Essens hatte er die Unterhaltung allein bestritten. Ausführlich hatte er geschildert, was ihn und Jule nach Unterleuten verschlagen hatte. Wie er vom Menschenforscher zum Vogelschützer geworden war. Er lobte das Landleben und ließ einen langen Monolog gegen Wachstumswahn und Veränderungssucht folgen. Eine Mischung aus Kapitalismuskritik, Entschleunigungsromantik und Infrastrukturfeindlichkeit. Während Linda Hirse schluckte, fragte sie sich, ob er ihr zwischen den Zeilen mitteilen wollte, dass ihre Pferdekoppeln etwas mit Bankenkrise, Burn-out und schwindenden Rohstoffreserven zu tun hatten.