In »Dein Erfolg« von Manfred Gortz wurden Leute wie Fließ als Killjoys bezeichnet. Killjoys verdarben anderen den Spaß, den sie selbst nicht hatten. Ein Killjoy suchte die Gründe für eigenes Versagen grundsätzlich bei anderen, vornehmlich bei der Gesellschaft. Zu diesem Zweck erstellte der Killjoy aufwändige Analysen, welche ihm den Ruf eintrugen, »intellektuell« zu sein. Auf diese Weise konnte er sich etwas auf seine Klugheit einbilden, während er komplizierte Argumentationen entwickelte, um eigene Defizite dem System anzulasten. Häufig firmierten Killjoys als Philosophen, Schriftsteller oder Feuilletonjournalisten. Sie scheuten alles, was anstrengend war, zum Beispiel ehrliche Arbeit, Sport oder gesunde Ernährung. Menschen, die ihr Leben der Aufgabe widmeten, sich selbst zu verbessern, überzogen sie mit Verachtung. Ein Killjoy, der den Anforderungen seines Jobs nicht gewachsen war, verteufelte die Leistungsgesellschaft. War er alkohol- oder zigarettenabhängig, warf er allen anderen Gesundheitswahn vor. Litt er an Potenzproblemen, sprach er von der sexualisierten Gesellschaft, und als armer Schlucker beklagte er die Ökonomisierung sämtlicher Lebensbereiche.
Im Kapitel »Das F-Kriterium« gab es einen Satz, den Linda besonders schätzte: »Unsere Umgebung spiegelt, was wir sind.« Angesichts des quadratischen Lächelns und der vergilbten Haare des Vogelschützers konnte sie sich mühelos vorstellen, wie dieser Mann sein halbes Leben in einem besenkammergroßen Büro an der Humboldt-Universität gesessen hatte, im Sommer von Sonneneinstrahlung, im Winter von einer unregulierbaren Heizungsanlage gegrillt. Sie fand, dass er dorthin besser passte als in diese etwas zu niedliche Bauernstube mit ihren etwas zu großen Möbeln aus dem Asien-Kontor. Seine junge Frau, das Baby, das sanierte Haus – das alles war bloße Dekoration, die verschleiern sollte, dass es der Vogelschützer in der echten Welt zu nichts gebracht hatte. Während er seine Weltanklage mit der Gabel in der Luft dirigierte, hatte sich Linda immer tiefer über ihren Teller gebeugt. Vor Versagern ekelte sie sich wie vor Käfern, die auf den Rücken fallen und nicht in der Lage sind, sich allein umzudrehen. Sie selbst verkörperte das Gegenteil eines Killjoys. In der Gortz-Terminologie war sie ein »Mover«, also ein Mensch, der auf der Welt war, um sich und andere zu bewegen. Wie Gortz schrieb: »Wer sitzt, wird zurückgelassen. Nur wer läuft, hält mit.« Oder: »Macht ist die Antwort auf die Frage, wer wen bewegt.«
Für eine Moverin war es schwer erträglich, in den Kissen einer Sitzgruppe zu versinken und darauf zu warten, dass ein Killjoy seinen ersten Schachzug machte. Das Schweigen zog sich in die Länge. Immer wieder wandte Jule den Kopf und lächelte Linda an, als würden sie sich aus einem früheren Leben kennen. Fließ beugte sich vor und schenkte Ginger Ale nach, wobei drei Ingwer-Stücke in Lindas Glas fielen, so dass Flüssigkeit auf die Glasplatte schwappte. Es wurde Zeit, den Abend voranzubringen.
Obwohl Linda normalerweise nicht rauchte, steckte in der Tasche ihres Hosenrocks ein Päckchen Zigaretten. Rauchen gehörte zu den Dingen, die man können musste, aber nicht müssen durfte. In vielen Situationen brachte eine Zigarette bessere Ergebnisse als tausend Worte. Wenn man zum Beispiel herausfinden wollte, welchen Marktwert man in einem Öko-Haushalt besaß.
Als sie sich zurücklehnte und die Zigaretten zutage förderte, riss Jule die Augen auf, als hätte sie einen Totschläger hervorgeholt.
»Eigentlich ist hier …«
Sofort fiel Fließ ihr ins Wort.
»Lass doch. Zur Feier des Tages.«
Er sprang auf, um einen Aschenbecher zu holen, während Jule, noch immer irritiert, mit einer vollgesogenen Papierserviette zwischen den Ginger-Ale-Gläsern herumwischte. Zufrieden nahm Linda den ersten Zug. Die Reaktionen waren angenehm eindeutig gewesen. Jule wollte nicht, dass im Haus geraucht wurde, und hegte in Bezug auf Linda keinerlei Hintergedanken. Fließ hingegen hatte etwas vor und ging davon aus, dass Linda am längeren Hebel saß. Übersetzt bedeutete das: Er wollte etwas von ihr, war aber nicht willens oder in der Lage, eine angemessene Gegenleistung zu erbringen. Linda blies Rauch in Jules Richtung und schenkte dem Vogelschützer ein aufmunterndes Lächeln.
»Dein Auftritt bei der Dorfversammlung war toll«, sagte Fließ. »So spontan und authentisch.«
»Nicht so laut«, sagte Jule. »Wegen Sophie.«
»Jule und ich sind froh, Leute wie dich hierzuhaben. So nett die Unterleutchen sind – im Ernstfall braucht man Menschen, die wissen, wie der Hase wirklich läuft.«
Linda achtete darauf, keine Zeichen von Zustimmung oder Einverständnis zu senden, und startete stattdessen den nächsten Versuchsballon.
»Können wir bitte ein Fenster aufmachen?«
Wieder sprang Fließ auf, ein bisschen zu eifrig, als hätte er einen Befehl von einem Vorgesetzten bekommen. Aber er ging nicht zum Fenster, sondern zur Musikanlage, wo er eine CD einlegte. Flüchtig registrierte Linda, dass sie schon länger keine CD mehr gesehen hatte. In ihrem Haushalt unterhielten sich die Computer kabellos mit den Boxen und spielten Musik direkt aus dem Internet. Ein Mann mit hoher Stimme sang vom »Next Big Thing«.
»Nicht so laut«, sagte Jule.
Fließ regelte die Lautstärke herunter.
»Das Fenster?«, beharrte Linda.
»Geht leider nicht«, sagte Fließ und setzte sich wieder hin.
»Warum nicht?«
»Unser Nachbar …«, begann Jule und verstummte, als Fließ ihr einen warnenden Blick zuwarf.
Gombrowski hatte also recht gehabt. Nach dem Gespräch im Garten hatte er Linda kräftig die Hand gedrückt und ihr zu allem Überfluss auch noch auf den Rücken geklopft.
»Das mit Ihrem Pferdestall kriegen wir hin«, hatte er gesagt. »Und um die Vogelschützer machen Sie sich mal keine Sorgen. Die habe ich im Griff.«
Den Zusammenhang hatte Linda nicht gleich verstanden. Gombrowskis Überrumpelungstaktik hatte ihre Wirkung nicht verfehlt. Als er die Schiefe Kappe erwähnte, wurde Linda von einer Art Lampenfieber erfasst, das ihr Herz schneller schlagen, die Gedärme rumoren und das Gehirn aufgeregt von einem Gedanken zum nächsten springen ließ. Die zwei Hektar im Nirgendwo waren gemeinsam mit Objekt 108 veräußert worden, als kläglicher Rest eines Grundbesitzes, der einst zur Villa gehört haben mochte. Ein »Gimmick«, wie der Makler es genannt hatte, zu weit weg vom Dorf, um Pferde darauf zu weiden. Offensichtlich war Gombrowski klug genug gewesen, um zu ahnen, dass sie von ihrem eigenen Besitz nichts wusste. Er hatte ihr eine Kopie der Flurkarte mitgebracht. Die Grundstücke auf der Schiefen Kappe sahen aus wie ein eckiger Schmetterling, in dessen linkem Flügel, handschriftlich vermerkt, der Name »Meiler« und im rechten »Ökologica« stand. Der Schmetterlingskörper in der Mitte war so schmal, dass jemand das Blatt gedreht hatte, um »Franzen/Wachs« in das mittlere Flurstück zu schreiben.
Windräder. Meiler. Gombrowski. Der Ökologica-Chef hatte dreißigtausend Euro für das kleine Flurstück geboten. Bei aller Verwirrung war Linda wenigstens geistesgegenwärtig genug gewesen, um sich jede Reaktion zu verbieten. Nur langsam hatte sie begriffen, dass Gombrowski auf die zwei Hektar in der Mitte zwingend angewiesen war, um die für den Windpark nötige Fläche zusammenzubekommen. Dasselbe galt für Meiler, falls er auf die Idee verfallen sollte, in erneuerbare Energien zu investieren. Lindas Verstand war mit der Frage beschäftigt, was das genau für sie bedeute, als Gombrowski plötzlich auf die Nebengebäude zeigte und fragte, was sie damit vorhabe. Sie erzählte von der geplanten Pferdezucht und erwähnte den Baustopp, den die Naturschutzbehörde verhängen wollte. Daraufhin war Gombrowski aufgestanden und mit schweren Wiegeschritten um Getreidespeicher und Schweinestall herumgegangen. Währenddessen hatte er ununterbrochen geredet. Rückwand abreißen, Fundament unterschieben, neu aufmauern. Ringanker setzen. Balken laschen. Fassade rekonstruieren, wegen der Optik. Das mit der Baugenehmigung gehe schon klar. Vier Männer könne er freistellen, vor dem Winter sei das noch zu schaffen. Wenn alle zufrieden seien, sagte Gombrowski, hätten am Ende auch alle den größten Nutzen. Das sei das Schöne an Unterleuten. Man schaffe es immer, sich gütlich zu einigen. Und die Vogelschützer, die solle sie ruhig ihm überlassen, die habe er schon im Griff.