Normalerweise glaubte Kron von sich selbst, ganz der Alte geblieben zu sein. Zwar schlief er seit Langem nur noch auf der rechten Seite und kaute auf der linken. Die Rückenschmerzen stellten keinen Zustand mehr dar, sondern waren selbst zu einem Körperteil geworden, und bei Wetterwechsel brachte ihn das kaputte Bein schier um den Verstand. Auch kam ihm in letzter Zeit das Körperfett abhanden, weshalb Kathrin ständig Auskunft darüber verlangte, was er im Lauf des Tages gegessen hatte. Weil ihn der Anblick der eigenen Rippen erschreckte, zog er sich nicht mehr vor dem Spiegel aus.
Trotzdem erschien ihm das Alter noch immer als Horizont, auf den man zuging, ohne ihn jemals zu erreichen. In Krons Kopf hatten sich die verschiedenen Versionen seiner selbst über die Jahre zu einer leidlich friedlichen Gruppe versammelt. Der sechzehnjährige Kron lebte genauso weiter wie der fünfunddreißig-, sechzig- und siebzigjährige. Sie saßen beisammen, schwiegen oder unterhielten sich. »Das hättest du damals nicht gedacht«, sagten die Alten. »Guck nur, was aus dir geworden ist«, sagten die Jungen. »Mehr gelitten als ich hat keiner von euch«, sagte der Mittlere. Sie stritten selten; im Grunde mochten sie sich. Kron war nicht älter, sondern zahlreicher geworden.
Wenn er sich aber mit den Veteranen traf, wenn er sah, was das Alter aus ihnen gemacht hatte – Komödianten, die sich selbst spielten –, dann erkannte er mit Grauen, dass er einer von ihnen war. Sie alle standen auf dem Horizont. Erik Kessler war bereits dahinter verschwunden.
Eigentlich kannte Kron keine Angst vor dem Tod. Er hatte genug Zeit im Wald verbracht, um von den Bedingungen biologischer Existenz zu wissen. Die Sonne war ein Dauerbefehl zum Leben. Unter ihrer Einwirkung drehte sich ein Reigen aus wachsenden, blühenden, fliegenden, schwimmenden und laufenden Gebilden, von denen Kron eines darstellte. Die Formen lösten einander ab, während sich die Substanz gleich blieb. Es war kein Grund ersichtlich, warum ausgerechnet der Kron-Form Ewigkeit zukommen sollte. Er spazierte pfeifend über Friedhöfe, aß Fleisch mit Appetit und streichelte die sonnenbleichen Schädel von Wildschweinen, die er im Unterholz fand.
Allein, die Treffen mit den Veteranen waren etwas anderes. Er mochte jeden Einzelnen von ihnen, aber gemeinsam erzählten sie etwas über das Leben, das er nicht wissen wollte.
Er hatte sie ins Hinterzimmer des Landmanns bestellt, und sie waren vollzählig erschienen. So war es immer: Die Veteranen kamen, wenn er sie rief. Vielleicht um der guten alten Zeiten willen, die in Wahrheit weder gut noch alt, sondern einfach nur vorbei waren. Vielleicht weil sie einander lange genug kannten, um zu einer Familie geworden zu sein, in der man – wie in allen Familien – Dinge tat, ohne die Gründe zu kennen. Die beste Erklärung bestand wohl darin, dass sich zwischen Menschen niemals etwas änderte. Kron war erst ihr Vorarbeiter, dann Brigadeführer gewesen, und in gewissem Sinne war er das immer noch. Sie saßen rund um den Tisch, jeder mit einem Bierglas vor sich, und schauten ihn erwartungsvoll an.
Er war vorbereitet. Er hatte lang genug über Gombrowskis Plan nachgedacht, um zu wissen, dass er sich nicht irrte. Ein Puzzleteil hatte sich zum nächsten gefügt; gemeinsam ergaben sie ein stimmiges Bild. Kron nahm einen Schluck Bier.
»So, ihr Säcke.«
Danach erläuterte er das Windmühlenkomplott. Bereits vor zwei oder drei Jahren habe Gombrowski von einem seiner politischen Freunde erfahren, dass die Unterleutner Region ins Visier der Energiewende-Abzocker geraten sei. Mit dieser Information sei er zu Arne gelaufen und habe ihm das Vorliegen einer Win-win-Situation auseinandergesetzt.
»Wind, Wind?«, fragte Ulrich.
»Win-win sagen die Abzocker, wenn mehr als ein Schwein Platz am Trog findet«, erklärte Kron.
Arne sollte die Gewerbesteuer kassieren und Gombrowski die fette Pacht für das Land, auf dem die Windmühlen standen. Fehlten nur noch die geeigneten Flächen sowie eine Strategie, die dem Dorf weismachte, es handele sich um höhere Gewalt und nicht etwa um Gombrowskische Habgier.
Weil abzusehen gewesen sei, dass es Widerstand gegen das Projekt geben würde, habe Gombrowski bei Schaller angefragt, ob der ein weiteres Mal die Drecksarbeit für ihn erledigen wolle. Aber irgendetwas sei wohl schiefgegangen. Vielleicht habe Schaller ein größeres Stück vom Kuchen gewollt und sei dumm genug gewesen, Gombrowski zu drohen. Jedenfalls habe Gombrowski versucht, ihn loszuwerden, was, wie man wisse, nur zur Hälfte geklappt habe. Immerhin zeige sich die verbliebene Hälfte nun wieder kooperativ. Gombrowski habe ihm das Haus direkt neben den Vogelschützern besorgt, und Schaller habe bereits mehrere Tage vor der offiziellen Verkündung des Windmühlenkomplotts begonnen, seine Nachbarn einzuräuchern. Das werde er gewiss auch weiterhin tun, bis diese zusagten, jeden Widerstand gegen die Windmühlen einzustellen.
»Und was hat der Schnösel aus Ingolstadt damit zu tun?«, fragte Norbert. »Dem du gleich ein paar mitgeben wolltest?«
Darüber hatte Kron lange nachgedacht. Feststand, dass es zwischen dem Schnösel und Gombrowski eine Verbindung geben musste. Auf der Versteigerung war der Schnösel bereit gewesen, jeden beliebigen Preis für das Land zu zahlen. Also hatte er bereits gewusst, dass sich die Ausgabe rentieren würde. Zudem sorgte die Beschaffenheit der Schiefen Kappe dafür, dass nur Gombrowski oder der Schnösel einen Windpark bauen konnten. Darauf hätte sich der alte Hund niemals eingelassen, wenn er nicht in Wahrheit mit dem Schnösel unter einer Decke steckte. All das konnte nur eins bedeuten: Hier lief eine noch viel größere Sache, als es auf den ersten Blick den Anschein hatte. Arne und Gombrowski planten ein Geschäft, für das ihnen das nötige Kleingeld fehlte. Und für das sie einen Sündenbock brauchten. Der Schnösel investierte, Gombrowski sorgte dafür, dass die Unterleutner den sauren Apfel verzehrten, Arne erledigte den Verwaltungskram. Der böse Investor aus dem Westen war schuld, und am Ende teilte man sich die Rendite.
Das erklärte Kron den Veteranen.
»Das ist erst der Anfang, versteht ihr? Der Schnösel aus Ingolstadt hat über 200 Hektar gekauft. Da werden sich mit Arnes Hilfe noch ein paar weitere Eignungsgebiete finden lassen. Bis es hier irgendwann aussieht wie auf der Plausitzer Platte. Bei Nacht ein Meer aus roten Blinklichtern, bis zum Horizont. Als lebte man im Inneren einer riesigen Maschine.«
Kron fühlte sich berauscht von der Logik seiner Ausführungen. Was den Menschen vom Tier unterschied, war die Fähigkeit, im Angesicht der Katastrophe »Siehste!« zu denken. Er gönnte sich das Gefühl. Vor zwanzig Jahren hatte ihm das Dorf nicht geglaubt, dass Gombrowski ein Teufel war. Dieses Mal würden sie nicht darum herumkommen. Sie würden zusehen, wie Gombrowski versuchte, ganz Unterleuten an die Vento Direct zu verkaufen. Und wie Kron das verhinderte. Wie er Rache nahm für die gestohlene Ökologica, für die korrumpierte Hilde und ein zertrümmertes Bein. Alle würden die perfide Raffinesse von Gombrowskis Plänen erkennen und einsehen, dass Kron kein verblendeter Kommunist war, sondern nur ein Mensch, der sein Gerechtigkeitsgefühl nicht gegen einen Internetanschluss eingetauscht hatte.
Bis dahin lag allerdings noch ein Weg vor ihm, dessen Länge und Beschwerlichkeit er an den Mienen der Veteranen ablesen konnte. Sie hatten seiner Ansprache in vollständiger Reglosigkeit gelauscht, nicht einmal gemurrt, gelacht oder auch nur scharf Luft geholt. Ihre Biergläser hatten sie ausgetrunken; ansonsten saßen sie unverändert. Es war unmöglich zu beurteilen, ob sie auch nur ein Wort verstanden hatten von dem, was er sagte. Sie warteten einfach ab, was als Nächstes folgte.
»Den Zahn werden wir dem fetten alten Hund ziehen«, sagte Kron. »Der denkt, das Dorf ist sein persönlicher Fleischknochen, an dem er nagen kann, so viel er will. Er denkt, er kann hier Löcher graben und in jede Ecke scheißen. Aber diesmal werden wir ihm eins überbraten, dass er den Schwanz einklemmt und hinter dem Ofen verschwindet.«