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»Lieber Tee.«

Frederik seufzte, durchsuchte die Küchenschränke, fand schließlich in einer Kiste zwischen uralten Milchdöschen und bunten Plastikstrohhalmen einen Teebeutel, stellte fest, dass die Espressotassen zu klein waren, und borgte sich Timos Kindertasse mit dem abgebrochenen Henkel und einem verblassten Bild vom Drachen Poldi. Das heiße Wasser aus dem Milchaufschäumer verbrühte ihm die Fingerknöchel.

Linda, zu deren Gewohnheiten es gehörte, jede seiner Bewegungen zu beobachten, verkniff sich eine Bemerkung. Dummerweise konnte Frederik ihre Gedanken lesen: Gott, bist du umständlich. Niemand auf der Welt braucht länger, um einen Teebeutel aufzugießen.

Seit Beginn ihrer Beziehung versuchte Linda erfolglos, ihn zu beschleunigen. Einmal hatte sie mit einer Stoppuhr an der Wohnungstür gestanden und gemessen, wie lange Frederik brauchte, um sich Schuhe und Jacke anzuziehen. Eine Minute dreißig. Ihm kam das nicht besonders lang vor. Linda hingegen benötigte, wie sie bereits überprüft hatte, für den gleichen Vorgang zwanzig Sekunden. Aus solchen Informationen baute sie ihr Weltbild, was Frederik vollkommen sinnlos erschien. Anders als Gortz verlangte, hatte er nicht vor, sich in irgendeiner Weise zu optimieren. In seinem Leben bildeten Gegenstände wie Reißverschlüsse, Schnürsenkel, Schraubenzieher oder Schneebesen eine feindliche Partisanenarmee, die aus dem Hinterhalt operierte. Es brachte nichts, dagegen anzukämpfen. Dafür konnte er Algorithmen lesen wie andere Leute Einkaufszettel. Manchmal dachte er, dass das Internet von Menschen wie ihm für Menschen wie ihn erfunden worden war.

»Ausgerechnet im Adlon!« Linda saß auf einem der Hocker an der Frühstücksbar, schaute in ihre Teetasse und fand keine Zeit, den ersten Schluck zu nehmen, weil sie vollauf mit der Beschreibung ihres Abenteuers beschäftigt war. »Und hockt ohne Jacke in der Lobby, damit ich auf jeden Fall kapiere, dass er dort wohnt. Wahrscheinlich in der Junior-Suite, auf Kosten seiner Kunden.«

»Dann muss er gut sein.«

»Interessiert mich nicht. Das ist eine Frage des Stils.«

Frederik hatte nichts gegen das Adlon; im Gegenteil, eigentlich mochte er Leute mit Geld. Sie konnten es sich leisten, freundlich zu sein. Aber das spielte in Lindas System keine Rolle. Sie teilte Menschen in zwei Kategorien ein: Freunde und Feinde. Freunde taten, was sie wollte; Feinde widersetzten sich. Ein Übergang von der ersten in die zweite Kategorie war jederzeit möglich. Meiler hatte sich durch seinen Auftritt in Unterleuten als Todfeind qualifiziert, und ein Hotel, in dem Todfeinde abstiegen, war ein böses Hotel. Nach Lindas Laune zu urteilen, hatte heute allerdings das Gute gesiegt, also sie selbst. Eines Tages wollte Frederik ein Computerspiel entwickeln, in dem eine Frau wie Linda die Hauptrolle spielte. Eine, die allen Ernstes glaubte, Gerechtigkeit sei ein anderes Wort dafür, dass sie ihren Willen bekam.

»Hast du dich schön teuer zum Essen einladen lassen?«

»Nix da. Ich war keine zehn Minuten drin. Rein, klarmachen, raus. So geht das.«

Jetzt nahm sie den ersten Schluck von ihrem Tee. Pustete auf die Oberfläche, schlürfte geräuschvoll.

»Fünfzigtausend.« Mit einem schnellen Blick prüfte sie seine Reaktion.

»Fünfzigtausend was?«

»Fünfzigtausend Euro.«

»Wofür?«

»Er bekommt die zwei Hektar auf der Schiefen Kappe, ich die vier Hektar hinter dem Haus. Fünfzigtausend zahlt er obendrauf.«

Frederik erschrak, wozu er mehrere Sekunden brauchte. Kein Schock, sondern ein langsam heraufziehendes Unbehagen. Linda stellte die Tasse ab, stützte die Ellenbogen auf die Knie und lehnte sich vor, bis ihr Gesicht nah vor seinem stand. Die grünen Augen wirkten hell wie von innen beleuchtet. Sie lächelte so breit, dass das Grübchen über ihrer linken Braue erschien, ein seltener Gast, den außer Frederik niemand zu sehen bekam. Jedenfalls glaubte er das.

»Stell dir mal vor.« Sie packte ihn am T-Shirt. »Was wir damit alles machen können. Zäune bauen. Luxusausstattung für die Pferdeboxen.«

Sie küsste ihn. Er strich ihr übers Haar, schob sie ein Stück weg, sie küsste ihn wieder.

»Das ist viel Geld. Bist du sicher, dass …?«

»Mit den Windrädern verdient er das Dreifache schon im ersten Jahr.«

»Mag schon sein, aber …«

»Sprich deine Sätze zu Ende.«

Er sah sie an. Freund. Feind. Freund.

»Ich weiß nicht, Linda. Ich hab ein komisches Gefühl dabei.«

»Du bist Spezialist für komische Gefühle.«

»Solche Geschäfte sind nicht deine Liga.«

»Frederik Wachs, komische Gefühle zu jedem Anlass, buy one, get one free.« Sie lachte, trank Tee und lachte immer noch, als sie die Tasse wieder auf die Bar stellte. »Als wir Objekt 108 kaufen wollten, hattest du auch komische Gefühle, weißt du noch? Dann noch komische Gefühle in Bezug auf Unterleuten und auf das Landleben im Allgemeinen. Was andere Menschen Entscheidung nennen, heißt bei dir komisches Gefühl.«

Wie immer, wenn sie einen Hauch Kritik spürte, versuchte sie, Frederiks Äußerungen in einen Vorwurf gegen ihn selbst zu verwandeln. Aber diesmal ließ er sich nicht beirren.

»Auf der Dorfversammlung hast du eine flammende Rede gegen Windräder gehalten.«

»Weil ich Windräder scheiße finde.«

»Aber du hilfst Meiler, welche zu bauen.«

Ungläubig blickte Linda ihn an.

»Weißt du, warum Fließ gegen die Windräder ist? Weil er die Schiefe Kappe von seinem Haus aus sehen kann. Das ist der einzige Grund. Gombrowski ist dafür, weil er einen Haufen Geld damit verdienen würde. Der durchgeknallte Kron ist dagegen, weil er mit Gombrowski eine Rechnung offen hat. Und so weiter. Jeder Spinner auf der Welt geht seinen Interessen nach. Nur ich muss den Moral-TÜV bestehen, oder wie?«

»Was hast du diesem Fließ erzählt?«

»Warum kannst du nicht einfach mal sagen: gut gemacht? Ich habe gerade fünfzigtausend Euro verdient, die gehören uns gemeinsam!«

»Linda, was hast du den Vogelschützern erzählt? Als du da zum Essen eingeladen warst?«

Sie griff nach der Teetasse und rückte von ihm ab. Eine Fliege stieß in sturem Rhythmus gegen die Fensterscheibe. Im Nebenzimmer lachte Ronny am Telephon.

»Wo ist Timo?«

»In Paris. Warum?«

»Schade.« Linda verzog den Mund. »Dein Bruder hätte sich mit mir gefreut.«

Frederik schüttelte den Kopf, um anzuzeigen, dass dieses Spiel nicht funktionierte.

»Ich will wissen, was du zu Fließ gesagt hast.«

»Die Wahrheit.« Fast schrie sie. »Dass ich nicht an Gombrowski verkaufe.«

»Aber jetzt verkaufst du an Meiler.«

»Danach hat er nicht gefragt.« Sie sah auf und lächelte schon wieder. »Fließ hat mir sein Ehrenwort gegeben, dass er das Verbotsverfahren ruhen lässt. Dass er nichts gegen die Koppelzäune unternimmt.« Mit einem Mal beugte sie sich vor und streckte eine Hand aus, die Frederik automatisch ergriff. »Wir kriegen das Land, Gombrowski besorgt eine Baugenehmigung und saniert die Nebengebäude, Meiler zahlt die Zäune. Bevor irgendjemand merkt, wie der Hase läuft, steht Bergamotte schon hinter dem Haus. Alles perfekt.«

»Ist das nicht – eine Art Betrug?«

Sie warf seine Hand fort, als hätte sie in etwas Schmutziges gegriffen.

»Das glaub ich jetzt nicht«, sagte sie.

»Ich habe einfach Angst.«