»Du bist nicht nur ein Spielverderber, sondern auch noch ein Feigling.«
»Du hättest mich fragen können. Das Land auf der Schiefen Kappe gehört uns gemeinsam. Ohne meine Unterschrift kannst du gar nicht an Meiler verkaufen.«
Mit einem Knall setzte Linda die Teetasse auf den Couchtisch und sprang auf.
»Du fällst mir in den Rücken?«
»Ich habe nichts dergleichen gesagt.«
»Dann äußere dich deutlich!« Jetzt schrie sie wirklich. »Hast du vor, mir die Unterschrift zu verweigern?«
Eine Weile starrten sie einander an, schweigend, heftig atmend wie Kombattanten. Frederik wartete auf weitere Beleidigungen. Aber Linda tat etwas Schlimmeres. Sie fing an zu weinen.
»Ich bin hergekommen«, schluchzte sie, »weil ich mit dir feiern wollte.«
Das war keine Strategie. Das konnte keine Strategie sein. Frederik schämte sich, dass er sich diese Frage überhaupt stellte. Linda stand vor ihm wie ein Kind, das voller Stolz mit einem selbstgemalten Bild zu den Eltern gelaufen ist und mit einem kritischen Vortrag über die Ausführung des Kunstwerks belohnt wird. Frederik spürte seinen Magen, die Stelle, an der das Gewissen saß. Im Grunde wusste er doch, dass hinter Lindas kaltschnäuziger Fassade ein kleines Mädchen kauerte und verzweifelt die Fäuste ballte. Der Grund für ihren verbohrten Ehrgeiz lag im Entsetzen über die Erkenntnis, dass die Welt einen Ort darstellte, an dem Dinge ohne Rücksicht auf den menschlichen Willen geschahen. Gepaart mit der Angst, für ihren Feldzug gegen diese Tatsache nicht gelobt zu werden. Was sie brauchte, war jemand, der zu ihr hielt.
»Richtig feiern«, schluchzte sie an seiner Schulter. »Essen gehen. Sekt trinken.«
Das Gefühl, alles falsch gemacht zu haben, war für Frederik ein alter Bekannter, allerdings keiner von der angenehmen Sorte. Aus Erfahrung wusste er, wie man ihn loswurde: durch sofortige Korrektur. Mit beiden Armen drückte er Linda an sich, bis irgendein Gelenk in der Tiefe ihres Körpers knackte. Dann griff er nach seiner Jacke und manövrierte Linda zur Tür.
»Wir gehen ins Borchardt«, sagte er.
Im Fahrstuhl küssten sie sich. Draußen brach die Sonne durch. Der Gewerbehof stand unter Wasser und spiegelte die ziehenden Wolken. Lachend und rufend wie Kinder sprangen sie mitten in die Wolkenspiegelbilder und rannten Hand in Hand durch das aufspritzende Wasser.
27 Gombrowski, geb. Niehaus
Es war kurz nach fünf am Dienstagmorgen, als Elena Gombrowski, eine Tasse Earl Grey in der Hand, die Terrassentür aufschob und ins Freie trat. Sie bemühte sich, möglichst wenig Lärm zu verursachen, um Fidi nicht zu wecken, die im oberen Stockwerk auf dem Teppich neben Gombrowskis Bett schlief. Über die Terrassenstufen ging sie hinunter zum Gartenteich.
Der Wind hatte aufgefrischt, und die Luft roch nach feuchter Erde, obwohl die Farbe der Dachziegel auf dem Geräteschuppen anzeigte, dass in der Nacht kein Tropfen gefallen war. In Groß Väter und Beutel hatte es mit Sicherheit geregnet, in Berlin und Plausitz sowieso. Unterleuten lag am Rand einer Wetterscheide. Es konnte passieren, dass man, von Plausitz kommend, im strömenden Regen durch den Wald fuhr, um dann auf Höhe der Schiefen Kappe einen Wasservorhang zu durchqueren, hinter dem die Straße plötzlich trocken war. Nicht selten stand rings um die Unterleutner Heide eine Regenwand, während im Dorf Tag und Nacht die Rasensprenger liefen, um inmitten staubiggelber Trockenheit ein paar grüne Rechtecke zu schaffen.
In einer guten Stunde würde Gombrowski durchs Schlafzimmerfenster auf das Dach des Geräteschuppens schauen, um abzulesen, ob Regen gefallen war. Waren die Ziegel hellrot wie heute, fluchte er, weil der Weizen zu trocken stand. Hatte es ausnahmsweise geregnet, lagen die Kartoffeln nass, was ebenfalls Grund zum Fluchen war. Seit die Menschen nicht mehr an Gott glaubten, beschwerten sie sich ständig über das Wetter. Und einem Landwirt konnte man es in meteorologischer Hinsicht sowieso nicht recht machen.
Leise vor sich hin pfeifend trat Elena an den Rand des Gartenteichs. Wie jeden Morgen war sie hier, um eine Aufgabe zu erfüllen. Die Sonne hatte es gerade über den Horizont geschafft und tauchte den Giebel von Hildes Häuschen in goldenes Licht. Auf diesem Giebel saß der Graureiher und schaute zum Gartenteich herüber. Der frühe Morgen war seine bevorzugte Jagdzeit. Seit er und seine Kollegen unter Naturschutz standen, kamen sie ohne Scheu in die Gärten, um die Teiche zu plündern. Netze über dem Wasser hatten die Vogelschützer verboten, weil sich die Vögel darin verfangen könnten. Gombrowski wurde nicht müde, über die Verrücktheit von Leuten zu schimpfen, die sich solche Vorschriften ausdachten. Elena hingegen fand es nicht überraschend, dass Tiere in der neuen Bundesrepublik besser geschützt wurden als Menschen. Irgendwie hatten es die Tiere mehr verdient.
Sie ging in die Hocke und zählte die Kois. Acht Stück, alle da. Nach Gombrowskis Aussage war jeder Fisch an die tausend Euro wert. Wichtiger als der Preis war die Tatsache, dass Gombrowski die Fische liebte. Die Vorstellung, einer der bunten Karpfen, auf die er so stolz war, könnte als Vogelfutter enden, schnitt Elena ins Herz. Es gab so wenig, an dem sich Gombrowski erfreute. Den frühmorgendlichen Wachdienst hatte sie freiwillig übernommen.
Während sie am Rand des Gartenteichs ihren Tee trank, bildeten die Kois einen bunten Wirbel zu ihren Füßen, wälzten die Leiber übereinander und hoben bettelnd die kreisrunden Mäuler. Am liebsten mochte sie den Tancho. Sein Körper war von einem rosa getönten Weiß, das ihn durchsichtig machte. Links und rechts des roten Flecks auf seiner Stirn konnte man die Schädelknochen sehen, in denen Augen und Kiemen eingebettet lagen. Verletzlich wirkte der Tancho, fast wie ein Wesen ohne Haut. Jeden Morgen brachte Elena eine Handvoll Brotkrumen mit und achtete darauf, dass der Tancho die besten Stücke fraß.
Das Wohlergehen der Fische war nicht der einzige Grund für ihr frühes Aufstehen. Elena ging gern zu Bett, während Gombrowski noch wach war, und stand auf, während er schlief. Seit Püppi nicht mehr im Haus wohnte, hatte sie sich angewöhnt, leise vor sich hin zu pfeifen. Irgendetwas saß in ihrem Kopf und erzeugte eine endlose Melodie, und mit jedem Atemzug kam ein Stück davon heraus. Gombrowski hasste das Pfeifen. Er hielt es für einen gezielten Angriff auf seine geistige Gesundheit. Wenn er in der Nähe war, versuchte Elena, sich zu beherrschen. Gerade morgens war das eine Tortur. Wenn Elena nach Sonnenaufgang ein wenig im Garten werkeln und ihre Melodien trällern konnte, ertrug sie anschließend das Schweigen beim Frühstück besser. Erst wenn die Haustür hinter Gombrowski zuschlug, begann ihr eigentliches Leben, welches pro Tag ein paar Stunden währte, nämlich so lange, wie sich ihr Mann in der Ökologica aufhielt. Leider verkürzte sich die tägliche Zeitspanne bedrohlich, seit Gombrowski Stunden abbaute. Elenas größte Angst richtete sich nicht auf Krankheit oder Tod, sondern auf Gombrowskis Ruhestand.
Als der Tee ausgetrunken war, stellte sie die Tasse beiseite und hob einen der faustgroßen Steine auf, die sie auf ihren Spaziergängen sammelte und im Schilf versteckte. Eigentlich war sie nie eine besonders gute Werferin gewesen, aber das tägliche Training machte sich bemerkbar. Der Stein flog in hohem Bogen über die Grundstücksgrenze, gewann an Höhe, verfehlte den Reiher um mehrere Meter und landete auf Hildes Dach, wo er laut rumorend abwärtsrollte und in der Regenrinne liegen blieb. Elena warf einen zweiten Stein. Unbeeindruckt blieb der Reiher sitzen; er hatte längst begriffen, dass nicht auf ihn gezielt wurde. Elena traf jene Stelle des Dachs, unter der sich Hildes Schlafkammer befand. Sie liebte die Vorstellung, wie Hilde aus dem Schlaf fuhr. Vielleicht lag sie anschließend noch eine Weile zitternd im Bett und zog sich die Decke über den Kopf. Vor lauter Freude schleuderte Elena noch einen dritten Stein.
Als das erledigt war, klopfte sie sich die Hände ab und ging zum Geräteschuppen, um einen Eimer zu holen; sie wollte zwischen den Rosen Unkraut jäten. Sie hatte den Schuppen noch nicht erreicht, als sie etwas Merkwürdiges hörte. Ein mechanisches Sirren, begleitet durch leises Flattern wie von dünnem Papier. Das Geräusch schien ihr seltsam vertraut, es schwoll an und ab mit dem Wind. Schnell lief Elena um die Hausecke herum, dann sah sie und verstand.