Am gusseisernen Zaun entlang der Straße drehten sich Windrädchen, zehn an der Zahl, in regelmäßigen Abständen an den Lilienspitzen befestigt. Jetzt kam die Erinnerung: Wie die kleine Püppi an Sommernachmittagen durch den Garten gerannt war, die Hand mit einem Windrädchen hoch über den Kopf gereckt. Oder wie sie an Regentagen im Haus gesessen und so lange in den kleinen Propeller geblasen hatte, bis Elena ihr das Spielzeug wegnehmen musste, weil sie zu hyperventilieren begann. Noch immer hätte Elena so ein Rädchen im Schlaf basteln können. Die Ecken eines quadratischen Papiers einschneiden und lochen, dann zur Mitte biegen und auf eine Beutelklammer stecken. Fertig. Auch die Rädchen am Zaun waren selbstgebastelt. Im leichten Wind drehten sie sich so schnell, dass sie wie bunte Scheiben aussahen. Elena ging hin, hob den Zeigefinger und berührte ein Rädchen, dass es stoppte. Als sie den Finger zurückzog, drehte es sich weiter.
Sie genoss einen Moment geistiger Umnachtung. Vielleicht war Püppi zu Besuch gekommen und hatte sich mit den Windrädern eine hübsche Überraschung ausgedacht. Vielleicht hockte sie hinter Gombrowskis Range Rover, würde gleich hervorstürmen und ihrer Mutter um den Hals fallen.
Der Augenblick ging vorbei. Püppi lebte in Freiburg und machte keine Überraschungsbesuche, nicht um halb sechs Uhr morgens und ganz sicher nicht in Unterleuten. Die Windräder hatten nichts Gutes zu bedeuten. Auf der anderen Seite des Beutelwegs stand Björns alter DDR-Zaun, aus schlichten Drahtfeldern zusammengesetzt. An diesem Zaun hingen Transparente. »Gombrowskis Windkraft versaut uns die Landschaft«, stand auf dem ersten. Das zweite verkündete: »Der fette alter Hund frisst sich an uns gesund.« Und das dritte hielt nur ein Wort bereit, dafür mit Ausrufungszeichen versehen: »Ausbeuter!«
Elena spürte, wie ihr das Blut in die Füße sackte. Ihre Wangen wurden kalt; für einen Moment glaubte sie, ein Kind hinter ihrem Rücken weinen zu hören. Sie packte das erstbeste Windrad und riss es vom Zaun. Der dünne Holzstab knickte, das abgebrochene Stück fiel zu Boden. Sie rannte zum nächsten Rädchen und riss es ab, dann zum übernächsten. Als sie das Gartentor öffnete, hielt sie einen ganzen Strauß Windräder in der Hand.
Björns Klingel ließ sie erst wieder los, als er vor ihr stand, in Jogginghosen und mit nacktem Oberkörper, die Augen gegen das Morgenlicht zusammengekniffen. Als er Elena erkannte, schluckte er ein paar Flüche hinunter, ließ die Schultern sinken und kratzte sich am Rücken. Obwohl er gleich gegenüber wohnte, hatten sie seit einer halben Ewigkeit nicht miteinander gesprochen. Björn hatte damals zu den Gegnern der LPG-Umwandlung gehört, er war ein Freund von Kron. Ebenso gut hätte er mit der Pest infiziert sein können.
Sein maskenhaftes Grinsen war schwer zu ertragen. Aber auch das verklebte Brusthaar und die an der Taille in breiten Falten liegende Haut wollte Elena nicht sehen. Sie schaute auf die Windrädchen in ihrer Hand, und weil auch dieser Anblick sie anwiderte, warf sie Björn den Strauß vor die Füße. Jetzt blickten sie beide zu Boden, auf die Fußmatte zwischen ihnen, wo das Spielzeug lag wie ein kleiner bunter Scheiterhaufen.
»Kron?«, fragte Elena.
»Was glaubst du?«
»Die Transparente kommen sofort runter.«
Björn blinzelte.
»Das mit dem fetten alten Hund fand ich auch ein bisschen heftig. Aber andererseits«, jetzt grinste Björn wirklich, »irgendwie ist er schon ein Hund, dein Mann, ein fetter alter, was, Elena?«
»Ausbeuter?« Ihre Stimme kippte. Björns Miene wurde weich.
»Du weißt doch, was er gemacht hat.«
»Er gibt dem halben Dorf Arbeit!«
»Du weißt, was er vorhat.«
»Nein! Ich bin nicht Hilde!«
Björns Augen schauten traurig über dem Grinsen. Die Zehen seines rechten Fußes schoben ein Windrad am Boden hin und her.
»Dann sag ich’s dir. Er macht die Ökologica dicht und zahlt eure Brötchen in Zukunft von der Windkraft. Wird locker reichen.«
»Wer erzählt so einen Unsinn? Kron?«
Schweigend zuckte Björn die Achseln.
»Die Ökologica ist Gombrowskis Leben«, sagte Elena. »Das Erbe seiner Familie.«
»Musst selbst wissen, was du glaubst, Elena. Am Ende kennst du ihn besser als wir.«
Fieberhaft versuchte sie, im Kopf die Fakten zusammenzusetzen, kam aber auf die Schnelle zu keinem Ergebnis. Es konnte stimmen. Vorruhestand, vergoldet durch einen letzten Coup. Der vorzeitige Eintritt der Katastrophe. Björn streckte die Hand aus, um sie an der Schulter zu berühren. Als sie zurückzuckte, ließ er den Arm wieder sinken.
»Willst du vielleicht reinkommen?«
Elena zeigte auf die Transparente.
»Du kennst Gombrowski«, sagte sie leise. »Er wird toben.«
»Es ist dein Leben, Elena«, sagte Björn.
Sie rannte zum Zaun. Kabelbinder und Leintücher. Sie griff in den Stoff, der Ausbeuter wurde unleserlich. Mit einem Ruck riss sie daran, ohne Erfolg. Das Leinen war stabil. Sie nahm die zweite Hand zu Hilfe, zog und zerrte mit ganzer Kraft. Es war nicht der Stoff, der nachgab, sondern der Zaun. Björn rief etwas, das sie nicht verstand, aber da kamen die Gitterfelder schon auf sie zu. Das Scheppern war ohrenbetäubend, als sie unter dem Zaun zu Boden ging. Elena wusste, dass sie verloren hatte, in jeder Hinsicht.
Auf der anderen Straßenseite begann Fidi wie besessen zu bellen. Erst gedämpft, dann lauter, dann sehr laut. Elena hörte, wie Björns Tür ins Schloss fiel. Sie hörte Fidi näher kommen. Sie blieb einfach liegen, unter dem Zaun.
28 Gombrowski
»Wer?«, brüllte Gombrowski.
Kaffee hatte für Betty, wenn sie morgens ins Büro kam, oberste Priorität. Nachdem sie den Filter der blauen Maschine bis zum Rand mit Kaffeepulver gefüllt und in die rote zwei magere Löffel geschaufelt hatte, setzte sie beide Maschinen in Gang, schloss die Kaffeedose, legte den Löffel weg und drehte sich zu Gombrowski um. Lächelnd.
»Guten Morgen«, sagte sie.
Bettys wichtigste Eigenschaft bestand darin, keine Angst vor Gombrowski zu haben. Das hatte sie von Hilde geerbt.
»Guten Morgen«, sagte er. »Also. Wer?«
Nur ein Idiot konnte glauben, dass Betty eine Gombrowski-Tochter sei. Aus ihren Augen schaute eindeutig Erik heraus: ruhig, abwartend. Dazu die breiten Schultern, der leicht mahlende Kiefer. Leider bestand das halbe Dorf aus Idioten.
»Verena«, sagte Betty. »Ingo, Patricia, Angela, Lutz.«
Das hätte er sich selbst denken können. Verena war Tierärztin und die Tochter des glotzäugigen Heinz. Ingo, der Lagerarbeiter, hatte in Jakobs Familie eingeheiratet. Björns Enkelin Patricia befand sich im ersten Jahr ihrer Ausbildung zur Landwirtin. Angela war Norberts Nichte und nur glücklich, wenn sie eine Maschine von der Größe eines Einfamilienhauses fahren konnte. Und Lutz war Wolfgangs Sohn. Veteranenkinder, alle fünf. Heute nicht zur Arbeit erschienen.
»Hast du angerufen?«
»Das lag im Briefkasten.«
Betty reichte Gombrowski einen roten Zettel und ging auf Abstand. Sie kannte ihn besser als jeder andere. Er warf nur einen kurzen Blick auf das Flugblatt und stützte die Hände auf den Tisch, um besser schreien zu können.
»Ich habe den Scheißladen in der Scheiß-DDR geführt. Ich führe den Scheißladen in der Scheiß-BRD. Seit vierzig Jahren wühle ich in der gleichen beschissenen Erde unter dem gleichen beschissenen Himmel. Aber so eine Scheiße ist mir noch nicht untergekommen!«
»Denk an deinen Blutdruck«, sagte Betty.
Aber er wollte nicht an seinen Blutdruck denken, obwohl es hörbar in den Ohren rauschte.
»Streik« stand in Großbuchstaben auf dem Papier. Darunter ein kurzer Text, in dem Begriffe wie »Ausverkauf«, »Windkraft-Schwindel« und »Schließung der Ökologica« vorkamen. Gombrowski hieb die Faust auf den Tisch, gleich mehrmals, bis das Kästchen mit Büroklammern zu Boden fiel.