Wieder hob er das Telefon; Pilz war noch dran. Arne sah vor sich, wie der Junge seine Brille mit dem Mittelfinger auf der Nase zurechtrückte. In seiner langen Amtszeit als Bürgermeister hatte er gelernt, dass gelungene Kommunikation meist darin bestand, den Gesprächspartner reden zu lassen. Wichtig war, die Gedanken in der Zwischenzeit auf etwas Angenehmes zu richten, so dass am Ende des Gesprächs beide Seiten zufrieden auseinandergingen – der eine, weil er reden durfte, der andere, weil er nicht zuhören musste. Im Grunde glich menschliches Sprachverhalten dem Zwitschern der Vögel. Es ging ums Revier oder um Balz, weshalb sich 95 Prozent der gesprochenen Worte auf die Bedeutungen »Das gehört mir« oder »Liebe mich« reduzieren ließen. Nur die verbleibenden fünf Prozent enthielten echte Informationen. Meistens fanden sie sich am Ende einer Tirade. Ein Profi wusste, wenn es so weit war.
»… bereits ausgearbeitet und uns zur Abgabe eines Angebots aufgefordert«, sagte Pilz gerade.
»Entschuldigung, wer?«, fragte Arne schnell.
»Gom …« Deutlich war zu hören, wie Pilz in irgendwelchen Unterlagen blätterte. »Rudolf Gombrowski. Er hat sogar schon Vorschläge für einen Zeitplan eingereicht. So schnell war noch keiner.«
»Wir sind hier eben eine flotte Truppe.«
»Ohne Zweifel, Herr Bürgermeister.« Amtsbezeichnungen waren erfunden worden, damit man sich den Namen seines Gegenübers nicht merken musste.
Die entscheidende Information hatte Arne im Grunde schon erhalten: Offensichtlich war es Gombrowski gelungen, sein Zehn-Hektar-Problem so weit in den Griff zu bekommen, dass er sich sicher genug fühlte, um die Vento Direct zur Abgabe eines Angebots aufzufordern. Das bedeutete, dass sich möglicherweise schon im Sommer nächsten Jahres die ersten Rotoren über Unterleuten drehen würden. Damit wäre der Gemeindehaushalt bis ans Ende von Arnes bescheidenem Leben saniert. Alles lief nach Plan. Mit minimalem Aufwand wurde maximaler Erfolg erzielt, ganz so, wie Arne es mochte. Er hatte Lust, das Telefon fallen zu lassen, aus dem Haus zu laufen und das Rotschwänzchen oder die Katze zu küssen. Aber offensichtlich hatte Pilz noch etwas für ihn. Das Rascheln von Dokumenten war am anderen Ende der Leitung nicht verstummt, sondern lauter geworden.
»Über … mangelndes Engagement der … Unterleutner«, sagte Pilz, unterbrochen von kleinen Pausen, während deren er etwas in seinen Unterlagen suchte, »kann ich mich … wirklich nicht beklagen. Ah, hier. Es ist noch eine zweite Kontaktaufnahme erfolgt.«
»Von Herrn Kron?«
»Gestern hat mich ein Herr Meiler angerufen.«
»Entschuldigung, wer?«, fragte Arne schon wieder.
»Konrad Meiler.«
»Gibt’s hier nicht.«
»Er lebt in Ingolstadt, wenn ich es richtig verstanden habe.«
»Was wollte der?«
»Er wollte der Vento Direct ein Stück Land zur Pacht anbieten.«
»Im Eignungsgebiet?«
»Sicher. Ebenfalls auf der Schiefen Kappe.«
»Das ist rein rechnerisch unmöglich. Das Eignungsgebiet umfasst nicht genügend Hektar für ein konkurrierendes Angebot.«
»Interessant«, sagte Pilz in jenem speziellen Tonfall, der anzeigte, dass etwas ganz und gar nicht interessierte. »Sie kennen Herrn Meiler nicht persönlich?«
»Nein.«
»Und Rudolf Gombrowski … Kann die Vento Direct davon ausgehen, dass es sich bei diesem Herrn aus Ihrer Sicht um den Wunschpartner für unser gemeinsames Projekt handelt?«
»Gombrowski ist langjähriger erfolgreicher Unternehmer«, sagte Arne, während er sich fragte, was diesen Meiler bewogen hatte, bei Pilz anzurufen. »In ihm hat die Vento Direct einen zuverlässigen Partner und beteiligt sich zudem an der Sicherung von Arbeitsplätzen in der Region.«
»Prachtvoll«, sagte Pilz, als handelte es sich bei dieser Antwort um einen farbenfrohen Sonnenaufgang. »Unterleuten ist für die Vento Direct kein Großprojekt, aber es könnte Vorzeigecharakter haben. Wie steht es mit den Protesten?«
»Sind angelaufen.«
»In welcher Form?«
»Unterschriftensammlung, Transparente. Wie ich heute Morgen hörte, auch eine Art Streik.« Gombrowski hatte getobt am Telefon.
»Das ist völlig normal. Menschen werden immer nervös, wenn sich etwas ändert. Damit haben wir reichlich Erfahrungen und nur in Ausnahmefällen ein Problem. Sind erst die Vorteile spürbar, verstummen die letzten Zweifler.«
»Ich kenne meine Leute«, sagte Arne. »Wir sind eine friedliche Gemeinschaft. Über kleine Aktionen wird der Protest nicht hinausgehen.«
»Wunderbar.« Pilz schlug deutlich hörbar einen Aktenordner zu. »Wir bleiben in Kontakt. Einen schönen Tag wünsche ich. Meiner ist es schon.«
Grammatisch nicht ganz korrekt, aber eine nette Abschiedsformel, dachte Arne, erwog kurz, sie ins Repertoire aufzunehmen, und entschied sich dagegen. Zu geleckt für die hiesigen Verhältnisse.
30 Fließ-Weiland
»Gombrowski ist ein Mörder und kommt in einer halben Stunde vorbei.«
Mit diesem Satz war Gerhard zur Tür hereingestürmt, gegen zwölf am Mittag, obwohl sein Dienst offiziell erst um fünf endete. Er brachte Hitze, Gummigestank und Aufregung mit herein, rannte vom Wohnzimmer in die Küche und zurück, als gälte es, für die Bewirtung des Mörders besondere Vorkehrungen zu treffen. Jule wollte eigentlich um halb eins mit Stillen fertig sein und Sophie ins Bett bringen, damit sich die Kleine endlich an feste Mittagsschlafzeiten gewöhnte. Was sie dabei überhaupt nicht gebrauchen konnte, war ein hektisch herumrennender Gerhard.
»Kannst du dich nicht hinsetzen?«
»Ein mutmaßlicher Mörder! Hörst du nicht, was ich sage?«
Sie hörte ihn gut, verstand aber kein Wort. Er redete schnell. Anscheinend hatte er am Vormittag die Arbeit in der Vogelschutzwarte ruhen lassen, um den Ökologica-Streikenden reihum einen Besuch abzustatten. Es sei darum gegangen, den moralischen Schulterschluss zu vollziehen und nach möglichen Synergien Ausschau zu halten. Dabei hatte er einen gewissen Heinz kennengelernt, der ihm eine verrückte Geschichte erzählte. Irgendetwas mit LPG-Umwandlung und politischem Protest; am Ende war ein Mann gestorben. Heinz war anscheinend davon überzeugt, dass Gombrowski für den Todesfall verantwortlich zeichnete.
Mörder. Der Begriff stand im Raum wie ein Gegenstand, der keine Funktion besaß. Er löste nichts aus. Er bedeutete nichts. In Jules Welt besaß »Mörder« keine Entsprechung. Gerhard hingegen schien genau zu wissen, wovon er sprach. Er lief weiter aufgeregte Kreise und blieb zwischendurch stehen, um Jule an den Oberarmen zu packen.
»Verstehst du, Jule? Der Tote war im Widerstand gegen ein Gombrowski-Projekt! Vielleicht ist es gefährlich, was wir tun. Viel gefährlicher, als wir uns vorstellen können.«
Dabei sah er nicht verängstigt, sondern begeistert aus. Seine Augen strahlten wie die eines kleinen Jungen, der seinen Freunden mitteilt, dass sich die feindliche Bande gerade am Waldrand zu sammeln beginnt.
Jule ließ ihn stehen und schloss die Schlafzimmertür hinter sich, um Sophie im großen Doppelbett zu stillen und anschließend, hoffentlich schlafend, in ihre Babywiege zu legen. Während sie die Kleine an der Brust hielt, versuchte sie, den Namen Gombrowski und das Wort »Mörder« zu einer Einheit zu verbinden, die Sinn ergab.
Zwei Jahre lang hatte Jule den Chef der Ökologica immer nur aus mittlerer Entfernung gesehen. Am Steuer seines Geländewagens. Auf dem Parkplatz vor dem Baumarkt. Am Skattisch im Hinterzimmer des Märkischen Landmann. Bis sie ihm letzte Woche im Haus des Bürgermeisters in die Arme gelaufen war. Sie war in einem Raum erwacht, den sie nicht kannte, war verschlafen und desorientiert auf den Flur getorkelt, und da hatte er vor ihr gestanden, groß und breit wie ein Berg, und seine dröhnende Stimme hatte sie so erschreckt, dass sie fast in Tränen ausgebrochen wäre.