Was sie hier verloren habe. Was für eine Unterschriftensammlung das sei.
Es war dann nicht Jule, sondern Sophie, die zu weinen begann. Im selben Augenblick war der Berg zu einem Häufchen zusammengeschmolzen.
Gombrowski hatte die Hände auf die Knie gestützt und seinen massigen Körper zusammengefaltet, um das Baby anzusehen.
»Mäuschen«, sagte er. »Was hat das Mäuschen denn? War ich zu laut? Das tut mir leid.«
Er zog einen Autoschlüssel aus der Tasche, an dem ein grauer Gummihund hing. Sofort verstummte Sophie, streckte die Händchen nach dem Spielzeug aus und gluckste vergnügt, als sie es halten durfte.
Jule dachte flüchtig, dass das traurige Hundegesicht Gombrowski ähnlich sehe. Als sie aufschaute, um den Eindruck zu prüfen, ruhte der Blick des großen Mannes versonnen auf der kleinen Sophie. Ein Lächeln stemmte sich gegen die schwere Visage, als wären es die Hängebacken nicht gewohnt, auf diese Weise angehoben zu werden. Für einen Augenblick schien sein ganzes Wesen von tiefer Zufriedenheit erfüllt, ausgelöst von der Tatsache, dass es ihm gelungen war, einem Baby eine Freude zu machen.
In diesem Gesicht konnte Jule lesen wie in einem offenen Buch.
Sie sah einen unglücklichen Menschen. Einen Mann, der zeit seines Lebens missverstanden worden war. Dessen Grobheit die Leute dazu brachte, ihn als Grobian wahrzunehmen, während sein ganzes Streben allein darauf gerichtet war, es allen recht zu machen. Jule hatte keine Angst mehr vor ihm, im Gegenteil, sie schaute ihn gerne an. Ein Mann, der ein Baby mit solcher Hingabe betrachten konnte, wollte nichts Böses.
Gombrowski hatte einen wurstigen Zeigefinger ausgestreckt und Sophie das Köpfchen gestreichelt.
»Kommen Sie. Ich fahre Sie nach Hause.«
Im Auto entwand er den Babyhänden vorsichtig das Spielzeug, löste den Schlüssel aus dem Ring, um ihn ins Zündschloss zu schieben, und gab den Hund zurück.
»Das ist Fidi«, sagte er. »Kann Ihr Baby behalten.«
»Mögen Sie Kinder?«, fragte Jule.
»Ich mag alles, was das Dorf am Leben erhält«, erwiderte er.
Während der kurzen Fahrt erzählte er Dinge, die Jule nachdenklich stimmten. Dass er seit Jahrzehnten seine ganze Kraft der Aufgabe widme, Unterleuten als lebenswerten Ort zu bewahren. Wie er Dorf und Betrieb erst gegen die Dummheit des Kommunismus, dann gegen die Gier des Kapitalismus verteidigt habe. Dass die Feuerwehr heutzutage ohne die Spenden der Ökologica kein betriebsbereites Fahrzeug besäße. Dass der Kindergarten, in den auch Sophie bestimmt bald gehen solle, nur durch Unterstützung der Ökologica existiere. Dass sich Gombrowski gemeinsam mit Arne bemühe, einmal pro Woche einen Arzt aus Neuruppin nach Unterleuten zu holen, damit die Alten ihre Rezepte und die Kinder ihre Impfungen erhielten.
»Da beklagen sich die Politiker über sterbende Regionen und nehmen die Schließung von Arztpraxen und Kindergärten in Kauf. Alles muss man selbst machen.«
Jule nickte vor sich hin, während der große Geländewagen vor ihrem Haus ausrollte und bremste. Gombrowski blieb noch einen Moment hinter dem Steuer sitzen.
»Die Gemeinde ist pleite, und auch die Kräfte der Ökologica sind erschöpft«, sagte er langsam. »Wenn Unterleuten überleben soll, braucht es einen Weg in die neue Zeit. Daher die Idee mit der Windkraft. Wissen Sie, schön finde ich die Propeller auch nicht. Aber wenn es heißt: Kinderbetreuung oder Zugvögel, dann werde ich mich für die Kinderbetreuung entscheiden.«
Er stieg aus und kam um den Range Rover herum, um Jule die Tür zu öffnen. Als sie zögerte, weil sie nicht wusste, wie sie mit Sophie im Arm über das Trittbrett aus dem hohen Wagen klettern sollte, fasste er sie kurzerhand um die Taille und hob sie herunter, als wäre sie mit Federn gefüllt.
Jule hatte ihn angelächelt und sich bedankt. Er hatte zurückgelächelt. Sie schämte sich, dass sie ihn für einen stumpfen Bauern gehalten hatte.
»Wenn Sie mehr wissen wollen über das Engagement der Ökologica, kommen Sie doch einfach mal im Büro vorbei.«
Dann fuhr er mit seinem großen Auto davon.
Mit geübtem Griff nahm Jule ihre Tochter an die andere Brust und überlegte, warum sie Gerhard nichts von der Begegnung erzählt hatte. Den Gummihund hatte sie unter den Windeln versteckt und holte ihn nur hervor, wenn ihr Mann nicht zu Hause war. Fast kam es ihr vor, als hätte sie Gerhard betrogen. Sie hatte gern neben Gombrowski gesessen und sich gern von ihm aus dem Auto heben lassen. Das war ungewöhnlich. Normalerweise fand Jule die körperliche Anwesenheit anderer Menschen unangenehm. Als sie noch in der Stadt lebte, hatte sie in der U-Bahn stets einen Platz gesucht, der sich in größtmöglicher Entfernung zu den anderen Fahrgästen befand. Musste sie jemanden begrüßen, gab sie schnell die Hand und zog sie gleich wieder zurück. Warum es unter Studenten üblich geworden war, selbst flüchtige Bekannte wie beste Freunde zu umarmen, hatte sie nie verstanden. Glücklicherweise gab es auf dem Land wesentlich weniger Gelegenheit, andere Menschen anzufassen. Oft genug empfand es Jule schon als Belastung, den eigenen Ehemann zu küssen.
Wenn es nach ihr gegangen wäre, hätte man auf körperliche Liebe ganz verzichten können, wenn nicht gerade die Zeugung eines Kinds auf der Agenda stand. Während ihrer jahrelangen Suche nach dem Richtigen hatte sie gelernt, dass weibliche Lust nichts war, auf das man warten konnte. Man musste dafür trainieren. Mit Gerhard hatte sie im Bett eine solide Verbindung von Freundschaft und Technik entwickelt. Der Sex gelang wie viele andere Dinge auch. Mehr als über eigene Höhepunkte freute sie sich über Gerhards Stolz. Als sie sich kennenlernten, hatte Gerhard unter etwas gelitten, das er »Probleme bei der Sache« nannte. Was derartige Komplikationen für einen Mann bedeuteten, konnte Jule nicht nachfühlen, aber Gerhards Schilderungen legten nahe, dass es sich um die Hölle auf Erden handeln musste. Jule fand es nett, einen Menschen, den sie mochte, gesund und glücklich zu machen.
Sophies Saugbewegungen wurden langsamer. Ein gutes Zeichen. Jule schaukelte die Kleine in den Armen, um ihr über die letzte Einschlafhürde hinwegzuhelfen. Das Thermometer zeigte 28 Grad Raumtemperatur, hinter der geschlossenen Jalousie wütete die Mittagssonne, der giftige Rauch war auch im Schlafzimmer deutlich zu spüren. Obwohl sich an der Lage nichts geändert hatte, schlief Sophie in letzter Zeit ruhiger, und Jule fühlte sich weniger gestresst. Plötzlich interessierte sie sich für andere Menschen, erst für Linda Franzen, dann für Gombrowski.
Vielleicht, dachte Jule, sind die Windräder ein Segen. Unterleutens Weg in die Zukunft und mein Weg nach Unterleuten. Vielleicht werden wir später auf diese Tage zurückschauen und denken, dass mit dem Windkraftstreit etwas Gutes begonnen hat.
Sie legte Sophie in die Wiege und ging auf Zehenspitzen zur Tür. Jetzt galt es erst einmal, den mutmaßlichen Mörder zu besichtigen. Jule lächelte. Gerhard mochte klug sprechen und doppelt so alt sein wie sie; in vielerlei Hinsicht aber war er ein kleiner Junge. Für ihn gab es die Guten und die Bösen. Weil er keinerlei Menschenkenntnis besaß, blieb ihm nur blühende Phantasie, um zwischen diesen beiden Kategorien zu unterscheiden. Jule nahm sich trotzdem vor, noch einmal genau hinzusehen. Ihr Instinkt würde ihr ohne Zweifel mitteilen, woran sie bei Gombrowski war. Einen schlechten Menschen würde sie niemals in Sophies Nähe dulden.
Er war schon da. Saß im Wohnzimmer und füllte den Rattansessel mit seiner Körpermasse komplett aus. Vor ihm stand eine Flasche Bier ohne Glas.
Sofort registrierte Jule, dass er seine Schnürstiefel nicht ausgezogen hatte; auf dem Bastteppich lagen viereckig gepresste Erdstücke, die aus dem Profil der Sohlen gefallen waren. Im Flur waren laute Kratzgeräusche zu hören. Offensichtlich saß Gombrowskis Hund vor der Haustür und wollte herein.
Als Gerhard sie im Türrahmen entdeckte, warf er Jule einen glühenden Blick zu und machte eine Handbewegung, die genauso gut »komm schnell herein« wie »geh schnell weg« bedeuten konnte. Sie betrat das Zimmer und setzte sich nicht neben Gerhard auf die Couch, sondern in den zweiten Sessel. Gombrowski warf ihr einen müden Blick zu und nickte kurz, ohne durch eine Regung erkennen zu lassen, dass sie erst kürzlich miteinander gesprochen hatten. Dann setzte er seinen Monolog über das Wetter fort, den er vermutlich als Smalltalk verstanden wissen wollte. Wenn er gerade nicht sprach, saugte er an seinen Zähnen, was schmatzende Geräusche erzeugte, vor denen sich Jule eigentlich hätte ekeln müssen. Stattdessen freute sie sich, ihn zu sehen.